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VÖLKERWANDERUNG UND DANACH – Wer ist wirklich warum gewandert?
Manage episode 435746256 series 2822647
Warum ist das antike römische Weltreich untergegangen? Auf der Suche nach den Ursachen hat die Geschichtsschreibung einen schillernden Begriff gefunden: die Völkerwanderung. Demnach hätte ein Ansturm von "Barbaren" die Herrschaft des alten Rom beendet. Doch inzwischen ändert sich das Bild: Demnach löste der beginnende Zerfall des Reichs einen gewaltigen Zustrom von außen aus, über alle Grenzen von Germanien bis Arabien. Von Matthias Hennies (BR 2021)
Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Diana Gaul
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Ulrich Himmelmann, Prof. Mischa Meier, Dr. Corina Knipper, Prof. Roland Steinacher
Besonderer Linktipp der Redaktion:
SR: Interpretationssache – Der Musikpodcast
Jede Folge ein Musikstück aus Klassik oder Pop in verschiedenen Aufnahmen: Roland Kunz sucht nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den Interpretationen. Warum gefällt uns die eine Aufnahme und die andere nicht? Welche Freiheiten nehmen sich die Musikerinnen und Musiker, obwohl doch eigentlich die gleichen Noten zugrunde liegen? Diesen Fragen geht Roland Kunz im SR-Podcast nach. Denn Vieles ist eben „Interpretationssache“! ZUM PODCAST
Linktipps:
Bayerische Landesausstellung (2024): Tassilo, Korbinian und der Bär – Bayern im frühen Mittelalter
Ein Herrscher mit Schwert und Szepter, ein Heiliger, der einen wilden Bären zähmt … das ist nicht der Stoff für einen Hollywoodfilm, sondern pure bayerische Geschichte. Tassilo, Korbinian und der Bär entführen uns in der Bayerischen Landesausstellung 2024 ins frühe Mittelalter! Veranstalter sind das Haus der Bayerischen Geschichte und die Erzdiözese München und Freising. Zusätzlich zur Landesausstellung werden dem Publikum ausgewählte Prunkräume des Dombezirks über Führungen zugänglich gemacht. Die Ausstellung findet noch bis zum 3. November 2024 im Diözesanmuseum Freising statt. MEHR INFOS
ZDF (2023): Drei Irrtümer über die Völkerwanderung
Ende des 4. Jahrhunderts treiben die Hunnen Germanische Kriegerverbände ins Römische Reich. Der Beginn der "Völkerwanderung". Doch waren Germanen wirklich Feinde der Römer und unzivilisierte Barbaren? Und endete das Römische Reich 476 nach Christus? JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 – Intro
TC 02:35 – Horrorszenario Völkerwanderung
TC 05:30 – Das neue Bild einer Epoche
TC 07:57 – Römischer Einfluss
TC 11:17 – Archäologische Spurensuche
TC 15:23 – Der Kitt der Kontinuität
TC 21:33 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro
ATMO & MUSIK
Sprecher
Wolkenlos wölbt sich der Himmel über den Weinbergen der Pfalz. Um die Sonne zu genießen, treffen sich die Einwohner von Bad Dürkheim nach Feierabend zwischen den Säulen der restaurierten Römervilla. Vor 2000 Jahren residierte hier der Besitzer eines riesigen Weinguts.
1. OT Himmelmann04 0:44
Hier den ganzen Hang hinunter waren Wirtschaftsgebäude, Weinkeltern, Scheunen usw., wir stehen hier nur vor dem Herrenhaus, dem Bad und den Repräsentationsräumen von einer sehr, sehr großen Anlage, die man sich vorstellen muss in den Dimensionen wie eine barocke Schlossanlage ungefähr.
Sprecher
Weinstöcke wachsen, wo einst die Nebengebäude standen, die Ulrich Himmelmann aufzählt, Leiter der Archäologie in der Region. Ein Gutshof von solchen Ausmaßen ist in der Pfalz heute unvorstellbar. Doch im Imperium Romanum gab es extreme Unterschiede zwischen reich und arm – und noch drastischer war das Wohlstandsgefälle zu den Menschen jenseits der Grenze, die weder Weinbau noch Steinbau kannten. Kein Wunder, dass sie eines Tages in Scharen ins Imperium drängten – manchmal friedlich und oft mit Feuer und Schwert.
2. OT Himmelmann04 3:16
Dieses Landgut ist hier in frührömischer Zeit bereits gegründet worden, läuft hier bis in die Mitte des vierten Jahrhunderts durch als Landgut mit enormer Größe, und um die Mitte des 4. Jahrhunderts brennt das hier ab und dann ist es auch zu Ende.
Sprecher
Damit begann eine Zeit, die man in Deutschland „Völkerwanderung“ nannte. Doch Historiker sind nicht mehr einverstanden mit dem lange überlieferten Bild:
MUSIK
Zitatorin 1
Zahllose wilde Völker haben Besitz ergriffen von ganz Gallien. Das gesamte Gebiet zwischen den Alpen und Pyrenäen, zwischen dem Ozean und dem Rhein haben […] die Feinde […] zerstört. Mainz, einst eine berühmte Stadt, haben sie eingenommen und völlig zerstört, Worms musste eine lange Belagerung aushalten, bis es dem Untergang anheimfiel. Die mächtige Stadt Reims, ferner Amiens, Arras, Tournay, Speyer, Straßburg, alle diese Städte sind in den Besitz der Germanen übergegangen.
TC 02:35 – Horrorszenario Völkerwanderung
Sprecher
Der Kirchenlehrer Hieronymus malte die Ereignisse im Westen des Römischen Reiches später als Weltuntergang aus. Auch andere Geschichtsschreiber entwarfen das Horrorszenario furchtbarer, großflächiger Zerstörungen. Und so entstand das Bild der „Völkerwanderung“, das bis vor kurzem etwa so in den Geschichtsbüchern stand:
MUSIK
Zitatorin 2
Auslöser sind die aus Asien kommenden Hunnen, die nach Westen drängen und die anderen Völker vertreiben. Ursachen der Wanderungen sind aber auch die Zunahme der Bevölkerung und nicht zuletzt Kriegslust und Beutehunger. Vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer gerät ganz Europa in Aufruhr, weil die meisten Völker ihre Heimat verlassen, um neue Siedlungsgebiete zu erobern.
Sprecher
Ob Franken oder Alemannen, Goten oder Gepiden, alle durchbrachen demnach den Limes und zogen mit Hab und Gut, mit Weib und Kind ins Römische Reich. Aber so war es nicht. Dieses romantische und gewalttätige Narrativ, das lange auch der nationalistischen Propaganda diente, gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Das belegen aktuelle Forschungen von Historikern, Naturwissenschaftlern und Archäologen - auch in der Pfalz.
ATMO
Sprecher
Bei der Ausgrabung der Dürkheimer Römervilla kamen eindeutige Brandspuren zu Tage. Aber die Archäologen haben an vielen Stellen der Weinbauregion, die auch damals dicht besiedelt war, gegraben. Dr. Himmelmann deutet auf die Hügel jenseits des Dürkheimer Bruchs:
3. OT Himmelmann04 7:28
Auf der anderen Seite der Haardtrand, wo die Burgruinen stehen, gegenüber auch gleich der Nachbar, die Villa in Wachenheim, die kann man von hier aus sehen.
Sprecher
Die Römervilla in Wachenheim gehörte ebenfalls zu einem Weingut – und sie wurde nie zerstört. Sie florierte noch ein ganzes Jahrhundert lang, nachdem der Besitz des Dürkheimer Nachbarn in Flammen aufgegangen war. Auch in Speyer, dem römischen Hauptort, stießen Himmelmann und seine Kollegen nicht auf Zerstörungsspuren: Skelette aus römischen Friedhöfen zeigen keine Kampfverletzungen, die Stadt ist nicht niedergebrannt. Um 350 begann eine unruhige Zeit, schließt der Archäologe, es kam zu Barbaren-Überfällen, römische Offiziere putschten, bunt gemischte Heerhaufen durchzogen das Land, doch sie richteten keine großflächigen Zerstörungen an, wie antike Autoren behaupteten.
4. OT Himmelmann04 9:22
Wir wissen, es gab Bürgerkriege, wir wissen, es gab lokale Unruhen, die aber offensichtlich nicht in allen Orten gleich verlaufen sein müssen. Es gibt auch kleinstädtische Siedlungen hier wie Eisenberg, wo wir ganz klar mächtige Zerstörungsschichten haben, da hat es große Brände gegeben und es gibt andere Orte, wo aber so etwas nicht feststellbar ist.
TC 05:30 – Das neue Bild einer Epoche
MUSIK
Sprecher
Das ist das neue Bild der Epoche, die 476 zur Absetzung des letzten weströmischen Kaisers führte. Die Weltmacht Rom ging nicht in einem abrupten Moment mit Donnergetöse unter – ihre Macht schwand nach und nach. In den Provinzen tauchten mehr und mehr Alemannen, Franken oder Goten auf, doch zugleich lief das gewohnte Leben für die Bürger weiter: In Speyer speiste das Aquädukt die Bäder noch lange mit Frischwasser, erzählt Himmelmann. Das alte Bild der „Völkerwanderung“ ist nicht mehr haltbar, erklärt Mischa Meier, Professor in Tübingen, denn dahinter steht ein Begriff von „Volk“ –
5. OT Meier 0:21
- der letztlich ein Konstrukt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert ist und nach all‘ dem, was wir heute wissen, hat es in der Antike und dem Frühmittelalter keine Völker in diesem romantischen Sinn gegeben, und das andere betrifft die Komponente Wanderung – da gibt es sehr klare Vorstellungen, die man sich früher von wandernden Völkern gemacht hat, und die sind mittlerweile auch wissenschaftlich nicht mehr tragbar.
Sprecher
Entscheidend ist das neue Verständnis der Gruppen, die seit dem Ende des vierten Jahrhunderts über alle Grenzen ins Reich strömten, betont der Historiker: Man kann sie nicht als einheitliche Ethnien bezeichnen. Forschungen der Migrationssoziologie und der Ethnologie zeigen, dass mobile Gruppen wie die Alemannen, Vandalen oder Hunnen der römischen Geschichtsschreiber nicht unbedingt gemeinsame Vorfahren oder eine lange gemeinsame Kulturtradition hatten. Klar ist nur: Sie fühlten sich zusammengehörig.
6. OT Meier 5:57
Sie haben also gemeinsam geglaubt, eine Gemeinschaft zu sein und haben zum Teil auch geglaubt, dass sie eine Abstammungsgemeinschaft sind und haben sich um diesen Glauben herum dann auch ihre eigenen Mythen und Geschichten gesponnen und entwickelt und später dann auch versucht, schriftlich festzuhalten und auf die Weise dann ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, das uns heute von außen betrachtet zunächst einmal wie eine ethnische Einheit dann auch vorkommt.
Sprecher
Auch ihre Namen gehen nicht auf sie selbst, sondern auf römische Schriftsteller zurück, die praktische Bezeichnungen für die heterogenen Gemeinschaften brauchten – in deren späteren, eigenen Aufzeichnungen blieben diese Namen dann oft erhalten.
TC 07:57 – Römischer Einfluss
MUSIK
Der Osten des Imperiums mit der gut befestigten Hauptstadt Konstantinopel überstand die Wirren relativ unbeschadet. Im Westen jedoch löste sich das römische Imperium in neue, kleinere Reiche auf – und das lag vermutlich nicht an der überwältigenden militärischen Übermacht, die die Grenzen durchbrach, wie man lange dachte. Jetzt meinen Historiker: Die Politik Roms spielte eine entscheidende Rolle, denn die Römer und ihre Nachbarn lebten nie in getrennten Welten. Eine „verflochtene Geschichte“, wie man heute in der Wissenschaft sagt, verband sie - schon seit dem 2. Jahrhundert. Mischa Meier hebt hervor:
7. OT Meier 17:30
Dass die Römer sehr aktiv Einfluss genommen haben auf die Geschehnisse im Barbaricum und dabei natürlich versucht haben, natürlich vor allem ihre Grenzen zu sichern, aber auch Kontakte zu knüpfen, Handelsverbindungen zu etablieren und in die inneren sozialen und politischen Verhältnisse der Gruppen, auf die sie getroffen sind, einzugreifen, nämlich zu ihren Gunsten.
Sprecher
Über Jahrhunderte war römische Kultur bei den „Barbaren“ ständig präsent: Anführer bekamen von den Kaisern hohe Summen, damit sie die Pufferzone vor der Grenze sicherten. Krieger brachten vom Dienst in den Legionen Geld und römische Lebensweise in ihre Heimat mit. Gesandte, aber auch viele Händler und Handwerker wechselten über die Grenzen. Diese Politik wirkte schließlich auf Rom zurück:
8. OT Meier
Aus kleineren Verbänden sind größere Zusammenschlüsse geworden, sie haben Identitätsbildungsprozesse durchlaufen, vor allem aber haben sie sich immer stärker auf das Römische Reich auch bezogen.
Sprecher
So entstanden größere Gemeinschaften, die als Franken und Alemannen, als Vandalen und Goten bekannt und bedrohlich wurden. Sie übernahmen römische Waffen, Moden, Denkweisen und erkannten im wohlhabenden Imperium mehr und mehr ein verlockendes Gelobtes Land. Beging die römische Politik also einen strategischen Fehler?
9. OT Meier 20:11
Die Römer hatten etablierte Prinzipien der Außenpolitik, die eben viele Jahrhunderte funktioniert haben, aber die eben Folgekosten mit sich brachten, die für die antiken Zeitgenossen nicht erkennbar waren, weil sie sich eben erst nach vielen Jahren und sehr, sehr schleichend materialisierten. Und gleichzeitig haben wir natürlich ein Wohlstandsgefälle zwischen dem Römischen Reich und den Regionen außerhalb des Reiches, und zwar ein sehr erhebliches Wohlstandsgefälle. Im Römischen Reich konnte man in einer Weise leben und Sicherheit genießen, wie es in kaum einem anderen Gebilde der Vormoderne möglich gewesen ist und natürlich hat das Begehrlichkeiten geweckt, ohne Zweifel.
Sprecher
Im 4. Jahrhundert geriet das Imperium in eine Schwächephase. Das Machtvakuum fiel mit einer Offensive hunnischer Reiterverbände zusammen, die von Osten nach Europa hereindrängten. Was die Ursache dafür war, möglicherweise Klimaveränderungen oder Seuchen in Zentralasien, ist umstritten. Die Folge waren zwei Jahrhunderte der Unrast: Goten flohen über die Donau nach Süden, Franken und Alemannen gingen über den Rhein nach Westen, Vandalen zogen durch Gallien nach Spanien, Langobarden nach Ungarn.
TC 11:17 – Archäologische Spurensuche
MUSIK
Ihre Routen durch Europa schildern antike und mittelalterliche Chroniken – doch die haben sich als notorisch unzuverlässig erwiesen. Forscher versuchen nun, die Wege der Kampf- und Siedlungsgemeinschaften im Labor, mit naturwissenschaftlichen Mitteln, zu rekonstruieren. Ihre wichtigste Quelle sind Skelettreste, die Archäologen in spätantiken Gräberfeldern bergen. Um zu ermitteln, ob die Menschen am Ort der Beisetzung geboren oder aber zugewandert sind, entnehmen sie Zähnen und Knochen winzige Mengen Proben und analysieren die Mischung der Isotope darin.
ATMO
Sprecher
Isotope sind Atome eines chemischen Elements, die eine unterschiedliche Masse haben. Das Praktische ist: Das jeweilige Mischung der verschiedenen Isotope ergibt einen chemischen Fingerabdruck des Elements, den man in Gesteinen, im Wasser oder in Pflanzen messen – und in menschlichen Knochen und Zähnen wiederfinden kann. Daraus schließen Forscher zum Beispiel, ob die Ernährung eines Individuums eher vegetarisch oder fleischhaltig war. Auch einige Pflanzenarten lassen sich erkennen: Hirse etwa, die ursprünglich in Zentralasien verbreitet war und zur Römerzeit vermehrt in Ungarn verzehrt wurde: Haben Zuwanderer sie vielleicht mitgebracht?
MUSIK
Migrationen versuchen Wissenschaftler vor allem aber anhand der vier Isotope des Strontiums zu ermitteln. Das Mischungsverhältnis der Strontium-Isotope im Gestein unterscheidet sich nämlich von Region zu Region. Da das Element durch die Verwitterung auch in den Boden, ins Wasser und letztlich in den Nahrungskreislauf gelangt, können Forscher das Isotopenverhältnis auch im menschlichen Körper bestimmen – und dann eine Beziehung zur Herkunftsregion eines Individuums herstellen.
10. OT Knipper 4.30
Das Schlüsselmaterial für die Untersuchung von Mobilität sind eigentlich die Zähne, genauer gesagt der Zahnschmelz, weil der schon in der Kindheit angelegt und nicht weiter verändert wird. D.h. wenn die Zähne im Laufe der Kindheit mineralisieren, wird das Strontium eingelagert und es verändert sich dann nicht mehr.
Sprecher
Dr. Corina Knipper, angestellt am renommierten Curt-Engelhorn-Centrum für Archäometrie in Mannheim, arbeitet in mehreren Projekten zur Geschichte der Langobarden, die in einer ersten Migration aus dem Elbe-Raum in die römische Provinz Pannonien im heutigen Ungarn gezogen sein sollen. In Kooperation mit ungarischen Kollegen hat Knipper mit ihren Mitarbeitern daher Proben von 550 Individuen aus ungarischen Gräberfeldern analysiert.
11. OT Knipper 11:28
Innerhalb dieses Projektes haben wir auch eine so genannte Isotopen-Kartierung durchgeführt. Eine Mitarbeiterin aus den Geo-Wissenschaften hat ganz systematisch Pflanzen- und Wasserproben gesammelt und hat da die Strontium-Isotopen-Verhältnisse bestimmt und hat dann daraus versucht, Regionen mit unterschiedlicher Isotopen-Zusammensetzung abzuleiten.
Sprecher
Doch die Methode stieß an ihre Grenzen: Sogar auf kleinem Raum erwies sich die Isotopen-Mischung als uneinheitlich. Umgekehrt fanden sich in weit voneinander entfernten Regionen dieselben Werte: Folglich ließen sich die Toten nicht eindeutig einer Herkunftsregion zuordnen. Man konnte nur unterschiedliche Personengruppen auf den Gräberfeldern benennen.
12. OT Knipper 13:56
Die Stärke der Methode liegt darin, dass man überhaupt ortsfremde Personen erkennt beziehungsweise ganz streng muss man eigentlich sagen, dass man Personen erkennt, die während ihrer Kindheit Nahrung aus einer anderen Region konsumiert haben.
TC 15:23 – Der Kitt der Kontinuität
Sprecher
Wie man sich die Kampf-Gemeinschaften vorstellen kann, die in den unruhigen Jahrhunderten durch das Römische Reich zogen, stellt der Historiker Mischa Meier in einer Reihe von Idealtypen dar:
13. OT Meier 2:49
Es gibt zum Beispiel kleine, schlagkräftige Kriegergruppen, die sich um einen charismatischen Anführer scharen und dann immer wieder Einfälle ins Römische Reich vorgenommen haben, das wären etwa die frühen Franken gewesen oder die frühen Alemannen oder Sachsen -
Sprecher
- denen es wohl vor allem um die Reichtümer der Römer ging. Andere waren auf der Suche nach einer neuen Heimat: Die gotischen Flüchtlinge etwa, die von hunnischen Reiterverbänden über die Donau gedrängt wurden. Auch ganze Armeen waren unterwegs -
14. OT Meier
Armeen allerdings im antiken Sinn, das heißt immer auch von einem großen zivilen Tross begleitet, von Frauen und Kindern, von Händlern und allen möglichen anderen Personen -
Sprecher
- und schließlich zählt Meier halb-nomadische arabische Gruppen auf, denn nicht nur an Rhein und Donau, auch in Syrien oder in Nordafrika mussten die Legionen den Limes aufgeben. Doch nicht alle Gruppen, die über die Grenzen strömten, wollten sich im Imperium ansiedeln, betont Meier, viele wurden einfach hineingezogen, nicht zuletzt von der römischen Politik selbst.
MUSIK
Zitatorin 4 (Üs 1908)
Kaiser Theodosius […] machte König Athanarich Geschenke, schloss eine Allianz mit ihm. […] Nach Athanarichs Tod blieb seine Armee in den Diensten des Kaisers, unterwarf sich der römischen Herrschaft und fügte sich in die kaiserlichen Truppen ein, als wäre sie eins mit ihnen.
Sprecher
Berichtete später der Geschichtsschreiber Jordanes. Kriegsdienst gegen römisches Land – bis dahin ein unerhörtes Tauschgeschäft. Der Grund ist offensichtlich:
15. OT Steinacher 14:29
Foederaten, unter Vertrag stehende, von außen kommende Soldaten, die kein römisches Bürgerrecht haben, die sind natürlich deutlich billiger zu haben als römische Bürger.
Sprecher
Der Kaiser konnte nicht mehr genug römische Legionäre besolden – das war ein entscheidender Faktor für den unaufhaltsamen Niedergang des Imperiums, betont der Historiker Roland Steinacher, Professor in Innsbruck. Zudem war auch die ideologische Basis des Imperium Romanum gründlich erschüttert worden: Dass sich mit dem Christentum eine völlig neue Form der Religion in der Bevölkerung verbreitete hatte und im 4. Jahrhundert auch im Staat etabliert worden war, trug ebenfalls zur Instabilität bei.
16. OT Steinacher 27:04
Der tiefe Wandel von Mentalitäten und ideologischen Strukturen, der Schritt zum Christentum, der eine mittelmeerische Gesellschaft fundamental verändert hat.
MUSIK
Sprecher
Und so vermischten sich die beiden Sphären, die einst der Limes getrennt hatte, immer stärker: Mal kämpften Legionäre mit hunnischen Einheiten gegen Franken, mal mit gotischen Abteilungen gegen Hunnen und in Bürgerkriegen mit diesen oder jenen gegen Römer. Oberbefehlshaber wurden Männer wie Stilicho, der von Vandalen abstammte oder Aetius, der lange am Hof der Hunnen gelebt hatte. Der gotische Warlord Alarich führte erst Truppen des Kaisers, dann plünderte er Rom, die frühere „Beherrscherin der Welt“. Vandalen, Goten, Franken gründeten dann in Italien, Spanien und Nordafrika, in Teilen Galliens und Germaniens neue, kleinere Reiche, die leichter zu verteidigen waren als das riesige, heterogene Gebilde, das Rom einst kontrolliert hatte.
17. OT Steinacher 16:45
Stellen Sie sich mal vor die Grenzen zwischen Britannien und dem Euphrat: Das zu kontrollieren und auch mit einem entsprechenden ideologischen Unterfutter zu versorgen, ist natürlich weitaus schwieriger als einen Teil, ein Bündel von Provinzen wie zum Beispiel Nordafrika oder Gallien oder Italien als partikularen politischen Apparat zu organisieren.
Sprecher
Doch das Imperium verschwand auch dort nicht: Römische Kultur erwies sich als der Kitt der Kontinuität, der Antike und Mittelalter verband.
18. OT Steinacher 22:10
Im Westen entwickelt sich ja auch eine letztlich kontinuierliche antike Struktur, denken Sie daran, eine kontinuierliche katholische Kirche, die die lateinische Sprache als Sprache des Gottesdienst, der Liturgie wie aber auch der Bildung, der Überlieferung, weiterverwendet, die Kirche ist die spätantike bürokratische Struktur, die kontinuierlich fortbesteht.
MUSIK
Sprecher
Die Übergangsphase – früher „Völkerwanderung“ genannt - zog sich vom 4. bis ins 6. Jahrhundert hin. Manche Historiker zählen auch die arabische Expansion im 7. Jahrhundert noch dazu und sprechen erst danach von der neuen Epoche, dem Mittelalter.
ATMO
Sprecher
Der Untergang des weströmischen Reiches zog sich so lange hin, für Zeitgenossen kann er kein radikaler Einschnitt gewesen sein. Wenn man als Handwerker in Speyer lebte oder in der Pfalz Wein anbaute, änderte sich nicht viel. Der Archäologe Ulrich Himmelmann meint:
19. OT Himmelmann04 19:28
Dass die Menschen diesen Bruch nicht so wahrgenommen haben, ach Gott, jetzt ist das Römische Reich weg, sondern dass für die Menschen das Römische Reich eigentlich der Staat war, in dem sie lebten und dass das Römische Reich eigentlich fortbestand und jetzt gerade in ner Krise war und eben lokale Autoritäten dieses Machtvakuum füllten und dass Karl der Große sich um 800 genau auf diese Tradition beruft, entspringt sicherlich aus dem noch vorhandenen Gefühl dafür, dass es da einen Staat gab, der halt gerade renoviert werden muss.
TC 21:33 – Outro
365 afleveringen
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Warum ist das antike römische Weltreich untergegangen? Auf der Suche nach den Ursachen hat die Geschichtsschreibung einen schillernden Begriff gefunden: die Völkerwanderung. Demnach hätte ein Ansturm von "Barbaren" die Herrschaft des alten Rom beendet. Doch inzwischen ändert sich das Bild: Demnach löste der beginnende Zerfall des Reichs einen gewaltigen Zustrom von außen aus, über alle Grenzen von Germanien bis Arabien. Von Matthias Hennies (BR 2021)
Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Diana Gaul
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Ulrich Himmelmann, Prof. Mischa Meier, Dr. Corina Knipper, Prof. Roland Steinacher
Besonderer Linktipp der Redaktion:
SR: Interpretationssache – Der Musikpodcast
Jede Folge ein Musikstück aus Klassik oder Pop in verschiedenen Aufnahmen: Roland Kunz sucht nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den Interpretationen. Warum gefällt uns die eine Aufnahme und die andere nicht? Welche Freiheiten nehmen sich die Musikerinnen und Musiker, obwohl doch eigentlich die gleichen Noten zugrunde liegen? Diesen Fragen geht Roland Kunz im SR-Podcast nach. Denn Vieles ist eben „Interpretationssache“! ZUM PODCAST
Linktipps:
Bayerische Landesausstellung (2024): Tassilo, Korbinian und der Bär – Bayern im frühen Mittelalter
Ein Herrscher mit Schwert und Szepter, ein Heiliger, der einen wilden Bären zähmt … das ist nicht der Stoff für einen Hollywoodfilm, sondern pure bayerische Geschichte. Tassilo, Korbinian und der Bär entführen uns in der Bayerischen Landesausstellung 2024 ins frühe Mittelalter! Veranstalter sind das Haus der Bayerischen Geschichte und die Erzdiözese München und Freising. Zusätzlich zur Landesausstellung werden dem Publikum ausgewählte Prunkräume des Dombezirks über Führungen zugänglich gemacht. Die Ausstellung findet noch bis zum 3. November 2024 im Diözesanmuseum Freising statt. MEHR INFOS
ZDF (2023): Drei Irrtümer über die Völkerwanderung
Ende des 4. Jahrhunderts treiben die Hunnen Germanische Kriegerverbände ins Römische Reich. Der Beginn der "Völkerwanderung". Doch waren Germanen wirklich Feinde der Römer und unzivilisierte Barbaren? Und endete das Römische Reich 476 nach Christus? JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 – Intro
TC 02:35 – Horrorszenario Völkerwanderung
TC 05:30 – Das neue Bild einer Epoche
TC 07:57 – Römischer Einfluss
TC 11:17 – Archäologische Spurensuche
TC 15:23 – Der Kitt der Kontinuität
TC 21:33 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro
ATMO & MUSIK
Sprecher
Wolkenlos wölbt sich der Himmel über den Weinbergen der Pfalz. Um die Sonne zu genießen, treffen sich die Einwohner von Bad Dürkheim nach Feierabend zwischen den Säulen der restaurierten Römervilla. Vor 2000 Jahren residierte hier der Besitzer eines riesigen Weinguts.
1. OT Himmelmann04 0:44
Hier den ganzen Hang hinunter waren Wirtschaftsgebäude, Weinkeltern, Scheunen usw., wir stehen hier nur vor dem Herrenhaus, dem Bad und den Repräsentationsräumen von einer sehr, sehr großen Anlage, die man sich vorstellen muss in den Dimensionen wie eine barocke Schlossanlage ungefähr.
Sprecher
Weinstöcke wachsen, wo einst die Nebengebäude standen, die Ulrich Himmelmann aufzählt, Leiter der Archäologie in der Region. Ein Gutshof von solchen Ausmaßen ist in der Pfalz heute unvorstellbar. Doch im Imperium Romanum gab es extreme Unterschiede zwischen reich und arm – und noch drastischer war das Wohlstandsgefälle zu den Menschen jenseits der Grenze, die weder Weinbau noch Steinbau kannten. Kein Wunder, dass sie eines Tages in Scharen ins Imperium drängten – manchmal friedlich und oft mit Feuer und Schwert.
2. OT Himmelmann04 3:16
Dieses Landgut ist hier in frührömischer Zeit bereits gegründet worden, läuft hier bis in die Mitte des vierten Jahrhunderts durch als Landgut mit enormer Größe, und um die Mitte des 4. Jahrhunderts brennt das hier ab und dann ist es auch zu Ende.
Sprecher
Damit begann eine Zeit, die man in Deutschland „Völkerwanderung“ nannte. Doch Historiker sind nicht mehr einverstanden mit dem lange überlieferten Bild:
MUSIK
Zitatorin 1
Zahllose wilde Völker haben Besitz ergriffen von ganz Gallien. Das gesamte Gebiet zwischen den Alpen und Pyrenäen, zwischen dem Ozean und dem Rhein haben […] die Feinde […] zerstört. Mainz, einst eine berühmte Stadt, haben sie eingenommen und völlig zerstört, Worms musste eine lange Belagerung aushalten, bis es dem Untergang anheimfiel. Die mächtige Stadt Reims, ferner Amiens, Arras, Tournay, Speyer, Straßburg, alle diese Städte sind in den Besitz der Germanen übergegangen.
TC 02:35 – Horrorszenario Völkerwanderung
Sprecher
Der Kirchenlehrer Hieronymus malte die Ereignisse im Westen des Römischen Reiches später als Weltuntergang aus. Auch andere Geschichtsschreiber entwarfen das Horrorszenario furchtbarer, großflächiger Zerstörungen. Und so entstand das Bild der „Völkerwanderung“, das bis vor kurzem etwa so in den Geschichtsbüchern stand:
MUSIK
Zitatorin 2
Auslöser sind die aus Asien kommenden Hunnen, die nach Westen drängen und die anderen Völker vertreiben. Ursachen der Wanderungen sind aber auch die Zunahme der Bevölkerung und nicht zuletzt Kriegslust und Beutehunger. Vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer gerät ganz Europa in Aufruhr, weil die meisten Völker ihre Heimat verlassen, um neue Siedlungsgebiete zu erobern.
Sprecher
Ob Franken oder Alemannen, Goten oder Gepiden, alle durchbrachen demnach den Limes und zogen mit Hab und Gut, mit Weib und Kind ins Römische Reich. Aber so war es nicht. Dieses romantische und gewalttätige Narrativ, das lange auch der nationalistischen Propaganda diente, gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Das belegen aktuelle Forschungen von Historikern, Naturwissenschaftlern und Archäologen - auch in der Pfalz.
ATMO
Sprecher
Bei der Ausgrabung der Dürkheimer Römervilla kamen eindeutige Brandspuren zu Tage. Aber die Archäologen haben an vielen Stellen der Weinbauregion, die auch damals dicht besiedelt war, gegraben. Dr. Himmelmann deutet auf die Hügel jenseits des Dürkheimer Bruchs:
3. OT Himmelmann04 7:28
Auf der anderen Seite der Haardtrand, wo die Burgruinen stehen, gegenüber auch gleich der Nachbar, die Villa in Wachenheim, die kann man von hier aus sehen.
Sprecher
Die Römervilla in Wachenheim gehörte ebenfalls zu einem Weingut – und sie wurde nie zerstört. Sie florierte noch ein ganzes Jahrhundert lang, nachdem der Besitz des Dürkheimer Nachbarn in Flammen aufgegangen war. Auch in Speyer, dem römischen Hauptort, stießen Himmelmann und seine Kollegen nicht auf Zerstörungsspuren: Skelette aus römischen Friedhöfen zeigen keine Kampfverletzungen, die Stadt ist nicht niedergebrannt. Um 350 begann eine unruhige Zeit, schließt der Archäologe, es kam zu Barbaren-Überfällen, römische Offiziere putschten, bunt gemischte Heerhaufen durchzogen das Land, doch sie richteten keine großflächigen Zerstörungen an, wie antike Autoren behaupteten.
4. OT Himmelmann04 9:22
Wir wissen, es gab Bürgerkriege, wir wissen, es gab lokale Unruhen, die aber offensichtlich nicht in allen Orten gleich verlaufen sein müssen. Es gibt auch kleinstädtische Siedlungen hier wie Eisenberg, wo wir ganz klar mächtige Zerstörungsschichten haben, da hat es große Brände gegeben und es gibt andere Orte, wo aber so etwas nicht feststellbar ist.
TC 05:30 – Das neue Bild einer Epoche
MUSIK
Sprecher
Das ist das neue Bild der Epoche, die 476 zur Absetzung des letzten weströmischen Kaisers führte. Die Weltmacht Rom ging nicht in einem abrupten Moment mit Donnergetöse unter – ihre Macht schwand nach und nach. In den Provinzen tauchten mehr und mehr Alemannen, Franken oder Goten auf, doch zugleich lief das gewohnte Leben für die Bürger weiter: In Speyer speiste das Aquädukt die Bäder noch lange mit Frischwasser, erzählt Himmelmann. Das alte Bild der „Völkerwanderung“ ist nicht mehr haltbar, erklärt Mischa Meier, Professor in Tübingen, denn dahinter steht ein Begriff von „Volk“ –
5. OT Meier 0:21
- der letztlich ein Konstrukt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert ist und nach all‘ dem, was wir heute wissen, hat es in der Antike und dem Frühmittelalter keine Völker in diesem romantischen Sinn gegeben, und das andere betrifft die Komponente Wanderung – da gibt es sehr klare Vorstellungen, die man sich früher von wandernden Völkern gemacht hat, und die sind mittlerweile auch wissenschaftlich nicht mehr tragbar.
Sprecher
Entscheidend ist das neue Verständnis der Gruppen, die seit dem Ende des vierten Jahrhunderts über alle Grenzen ins Reich strömten, betont der Historiker: Man kann sie nicht als einheitliche Ethnien bezeichnen. Forschungen der Migrationssoziologie und der Ethnologie zeigen, dass mobile Gruppen wie die Alemannen, Vandalen oder Hunnen der römischen Geschichtsschreiber nicht unbedingt gemeinsame Vorfahren oder eine lange gemeinsame Kulturtradition hatten. Klar ist nur: Sie fühlten sich zusammengehörig.
6. OT Meier 5:57
Sie haben also gemeinsam geglaubt, eine Gemeinschaft zu sein und haben zum Teil auch geglaubt, dass sie eine Abstammungsgemeinschaft sind und haben sich um diesen Glauben herum dann auch ihre eigenen Mythen und Geschichten gesponnen und entwickelt und später dann auch versucht, schriftlich festzuhalten und auf die Weise dann ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, das uns heute von außen betrachtet zunächst einmal wie eine ethnische Einheit dann auch vorkommt.
Sprecher
Auch ihre Namen gehen nicht auf sie selbst, sondern auf römische Schriftsteller zurück, die praktische Bezeichnungen für die heterogenen Gemeinschaften brauchten – in deren späteren, eigenen Aufzeichnungen blieben diese Namen dann oft erhalten.
TC 07:57 – Römischer Einfluss
MUSIK
Der Osten des Imperiums mit der gut befestigten Hauptstadt Konstantinopel überstand die Wirren relativ unbeschadet. Im Westen jedoch löste sich das römische Imperium in neue, kleinere Reiche auf – und das lag vermutlich nicht an der überwältigenden militärischen Übermacht, die die Grenzen durchbrach, wie man lange dachte. Jetzt meinen Historiker: Die Politik Roms spielte eine entscheidende Rolle, denn die Römer und ihre Nachbarn lebten nie in getrennten Welten. Eine „verflochtene Geschichte“, wie man heute in der Wissenschaft sagt, verband sie - schon seit dem 2. Jahrhundert. Mischa Meier hebt hervor:
7. OT Meier 17:30
Dass die Römer sehr aktiv Einfluss genommen haben auf die Geschehnisse im Barbaricum und dabei natürlich versucht haben, natürlich vor allem ihre Grenzen zu sichern, aber auch Kontakte zu knüpfen, Handelsverbindungen zu etablieren und in die inneren sozialen und politischen Verhältnisse der Gruppen, auf die sie getroffen sind, einzugreifen, nämlich zu ihren Gunsten.
Sprecher
Über Jahrhunderte war römische Kultur bei den „Barbaren“ ständig präsent: Anführer bekamen von den Kaisern hohe Summen, damit sie die Pufferzone vor der Grenze sicherten. Krieger brachten vom Dienst in den Legionen Geld und römische Lebensweise in ihre Heimat mit. Gesandte, aber auch viele Händler und Handwerker wechselten über die Grenzen. Diese Politik wirkte schließlich auf Rom zurück:
8. OT Meier
Aus kleineren Verbänden sind größere Zusammenschlüsse geworden, sie haben Identitätsbildungsprozesse durchlaufen, vor allem aber haben sie sich immer stärker auf das Römische Reich auch bezogen.
Sprecher
So entstanden größere Gemeinschaften, die als Franken und Alemannen, als Vandalen und Goten bekannt und bedrohlich wurden. Sie übernahmen römische Waffen, Moden, Denkweisen und erkannten im wohlhabenden Imperium mehr und mehr ein verlockendes Gelobtes Land. Beging die römische Politik also einen strategischen Fehler?
9. OT Meier 20:11
Die Römer hatten etablierte Prinzipien der Außenpolitik, die eben viele Jahrhunderte funktioniert haben, aber die eben Folgekosten mit sich brachten, die für die antiken Zeitgenossen nicht erkennbar waren, weil sie sich eben erst nach vielen Jahren und sehr, sehr schleichend materialisierten. Und gleichzeitig haben wir natürlich ein Wohlstandsgefälle zwischen dem Römischen Reich und den Regionen außerhalb des Reiches, und zwar ein sehr erhebliches Wohlstandsgefälle. Im Römischen Reich konnte man in einer Weise leben und Sicherheit genießen, wie es in kaum einem anderen Gebilde der Vormoderne möglich gewesen ist und natürlich hat das Begehrlichkeiten geweckt, ohne Zweifel.
Sprecher
Im 4. Jahrhundert geriet das Imperium in eine Schwächephase. Das Machtvakuum fiel mit einer Offensive hunnischer Reiterverbände zusammen, die von Osten nach Europa hereindrängten. Was die Ursache dafür war, möglicherweise Klimaveränderungen oder Seuchen in Zentralasien, ist umstritten. Die Folge waren zwei Jahrhunderte der Unrast: Goten flohen über die Donau nach Süden, Franken und Alemannen gingen über den Rhein nach Westen, Vandalen zogen durch Gallien nach Spanien, Langobarden nach Ungarn.
TC 11:17 – Archäologische Spurensuche
MUSIK
Ihre Routen durch Europa schildern antike und mittelalterliche Chroniken – doch die haben sich als notorisch unzuverlässig erwiesen. Forscher versuchen nun, die Wege der Kampf- und Siedlungsgemeinschaften im Labor, mit naturwissenschaftlichen Mitteln, zu rekonstruieren. Ihre wichtigste Quelle sind Skelettreste, die Archäologen in spätantiken Gräberfeldern bergen. Um zu ermitteln, ob die Menschen am Ort der Beisetzung geboren oder aber zugewandert sind, entnehmen sie Zähnen und Knochen winzige Mengen Proben und analysieren die Mischung der Isotope darin.
ATMO
Sprecher
Isotope sind Atome eines chemischen Elements, die eine unterschiedliche Masse haben. Das Praktische ist: Das jeweilige Mischung der verschiedenen Isotope ergibt einen chemischen Fingerabdruck des Elements, den man in Gesteinen, im Wasser oder in Pflanzen messen – und in menschlichen Knochen und Zähnen wiederfinden kann. Daraus schließen Forscher zum Beispiel, ob die Ernährung eines Individuums eher vegetarisch oder fleischhaltig war. Auch einige Pflanzenarten lassen sich erkennen: Hirse etwa, die ursprünglich in Zentralasien verbreitet war und zur Römerzeit vermehrt in Ungarn verzehrt wurde: Haben Zuwanderer sie vielleicht mitgebracht?
MUSIK
Migrationen versuchen Wissenschaftler vor allem aber anhand der vier Isotope des Strontiums zu ermitteln. Das Mischungsverhältnis der Strontium-Isotope im Gestein unterscheidet sich nämlich von Region zu Region. Da das Element durch die Verwitterung auch in den Boden, ins Wasser und letztlich in den Nahrungskreislauf gelangt, können Forscher das Isotopenverhältnis auch im menschlichen Körper bestimmen – und dann eine Beziehung zur Herkunftsregion eines Individuums herstellen.
10. OT Knipper 4.30
Das Schlüsselmaterial für die Untersuchung von Mobilität sind eigentlich die Zähne, genauer gesagt der Zahnschmelz, weil der schon in der Kindheit angelegt und nicht weiter verändert wird. D.h. wenn die Zähne im Laufe der Kindheit mineralisieren, wird das Strontium eingelagert und es verändert sich dann nicht mehr.
Sprecher
Dr. Corina Knipper, angestellt am renommierten Curt-Engelhorn-Centrum für Archäometrie in Mannheim, arbeitet in mehreren Projekten zur Geschichte der Langobarden, die in einer ersten Migration aus dem Elbe-Raum in die römische Provinz Pannonien im heutigen Ungarn gezogen sein sollen. In Kooperation mit ungarischen Kollegen hat Knipper mit ihren Mitarbeitern daher Proben von 550 Individuen aus ungarischen Gräberfeldern analysiert.
11. OT Knipper 11:28
Innerhalb dieses Projektes haben wir auch eine so genannte Isotopen-Kartierung durchgeführt. Eine Mitarbeiterin aus den Geo-Wissenschaften hat ganz systematisch Pflanzen- und Wasserproben gesammelt und hat da die Strontium-Isotopen-Verhältnisse bestimmt und hat dann daraus versucht, Regionen mit unterschiedlicher Isotopen-Zusammensetzung abzuleiten.
Sprecher
Doch die Methode stieß an ihre Grenzen: Sogar auf kleinem Raum erwies sich die Isotopen-Mischung als uneinheitlich. Umgekehrt fanden sich in weit voneinander entfernten Regionen dieselben Werte: Folglich ließen sich die Toten nicht eindeutig einer Herkunftsregion zuordnen. Man konnte nur unterschiedliche Personengruppen auf den Gräberfeldern benennen.
12. OT Knipper 13:56
Die Stärke der Methode liegt darin, dass man überhaupt ortsfremde Personen erkennt beziehungsweise ganz streng muss man eigentlich sagen, dass man Personen erkennt, die während ihrer Kindheit Nahrung aus einer anderen Region konsumiert haben.
TC 15:23 – Der Kitt der Kontinuität
Sprecher
Wie man sich die Kampf-Gemeinschaften vorstellen kann, die in den unruhigen Jahrhunderten durch das Römische Reich zogen, stellt der Historiker Mischa Meier in einer Reihe von Idealtypen dar:
13. OT Meier 2:49
Es gibt zum Beispiel kleine, schlagkräftige Kriegergruppen, die sich um einen charismatischen Anführer scharen und dann immer wieder Einfälle ins Römische Reich vorgenommen haben, das wären etwa die frühen Franken gewesen oder die frühen Alemannen oder Sachsen -
Sprecher
- denen es wohl vor allem um die Reichtümer der Römer ging. Andere waren auf der Suche nach einer neuen Heimat: Die gotischen Flüchtlinge etwa, die von hunnischen Reiterverbänden über die Donau gedrängt wurden. Auch ganze Armeen waren unterwegs -
14. OT Meier
Armeen allerdings im antiken Sinn, das heißt immer auch von einem großen zivilen Tross begleitet, von Frauen und Kindern, von Händlern und allen möglichen anderen Personen -
Sprecher
- und schließlich zählt Meier halb-nomadische arabische Gruppen auf, denn nicht nur an Rhein und Donau, auch in Syrien oder in Nordafrika mussten die Legionen den Limes aufgeben. Doch nicht alle Gruppen, die über die Grenzen strömten, wollten sich im Imperium ansiedeln, betont Meier, viele wurden einfach hineingezogen, nicht zuletzt von der römischen Politik selbst.
MUSIK
Zitatorin 4 (Üs 1908)
Kaiser Theodosius […] machte König Athanarich Geschenke, schloss eine Allianz mit ihm. […] Nach Athanarichs Tod blieb seine Armee in den Diensten des Kaisers, unterwarf sich der römischen Herrschaft und fügte sich in die kaiserlichen Truppen ein, als wäre sie eins mit ihnen.
Sprecher
Berichtete später der Geschichtsschreiber Jordanes. Kriegsdienst gegen römisches Land – bis dahin ein unerhörtes Tauschgeschäft. Der Grund ist offensichtlich:
15. OT Steinacher 14:29
Foederaten, unter Vertrag stehende, von außen kommende Soldaten, die kein römisches Bürgerrecht haben, die sind natürlich deutlich billiger zu haben als römische Bürger.
Sprecher
Der Kaiser konnte nicht mehr genug römische Legionäre besolden – das war ein entscheidender Faktor für den unaufhaltsamen Niedergang des Imperiums, betont der Historiker Roland Steinacher, Professor in Innsbruck. Zudem war auch die ideologische Basis des Imperium Romanum gründlich erschüttert worden: Dass sich mit dem Christentum eine völlig neue Form der Religion in der Bevölkerung verbreitete hatte und im 4. Jahrhundert auch im Staat etabliert worden war, trug ebenfalls zur Instabilität bei.
16. OT Steinacher 27:04
Der tiefe Wandel von Mentalitäten und ideologischen Strukturen, der Schritt zum Christentum, der eine mittelmeerische Gesellschaft fundamental verändert hat.
MUSIK
Sprecher
Und so vermischten sich die beiden Sphären, die einst der Limes getrennt hatte, immer stärker: Mal kämpften Legionäre mit hunnischen Einheiten gegen Franken, mal mit gotischen Abteilungen gegen Hunnen und in Bürgerkriegen mit diesen oder jenen gegen Römer. Oberbefehlshaber wurden Männer wie Stilicho, der von Vandalen abstammte oder Aetius, der lange am Hof der Hunnen gelebt hatte. Der gotische Warlord Alarich führte erst Truppen des Kaisers, dann plünderte er Rom, die frühere „Beherrscherin der Welt“. Vandalen, Goten, Franken gründeten dann in Italien, Spanien und Nordafrika, in Teilen Galliens und Germaniens neue, kleinere Reiche, die leichter zu verteidigen waren als das riesige, heterogene Gebilde, das Rom einst kontrolliert hatte.
17. OT Steinacher 16:45
Stellen Sie sich mal vor die Grenzen zwischen Britannien und dem Euphrat: Das zu kontrollieren und auch mit einem entsprechenden ideologischen Unterfutter zu versorgen, ist natürlich weitaus schwieriger als einen Teil, ein Bündel von Provinzen wie zum Beispiel Nordafrika oder Gallien oder Italien als partikularen politischen Apparat zu organisieren.
Sprecher
Doch das Imperium verschwand auch dort nicht: Römische Kultur erwies sich als der Kitt der Kontinuität, der Antike und Mittelalter verband.
18. OT Steinacher 22:10
Im Westen entwickelt sich ja auch eine letztlich kontinuierliche antike Struktur, denken Sie daran, eine kontinuierliche katholische Kirche, die die lateinische Sprache als Sprache des Gottesdienst, der Liturgie wie aber auch der Bildung, der Überlieferung, weiterverwendet, die Kirche ist die spätantike bürokratische Struktur, die kontinuierlich fortbesteht.
MUSIK
Sprecher
Die Übergangsphase – früher „Völkerwanderung“ genannt - zog sich vom 4. bis ins 6. Jahrhundert hin. Manche Historiker zählen auch die arabische Expansion im 7. Jahrhundert noch dazu und sprechen erst danach von der neuen Epoche, dem Mittelalter.
ATMO
Sprecher
Der Untergang des weströmischen Reiches zog sich so lange hin, für Zeitgenossen kann er kein radikaler Einschnitt gewesen sein. Wenn man als Handwerker in Speyer lebte oder in der Pfalz Wein anbaute, änderte sich nicht viel. Der Archäologe Ulrich Himmelmann meint:
19. OT Himmelmann04 19:28
Dass die Menschen diesen Bruch nicht so wahrgenommen haben, ach Gott, jetzt ist das Römische Reich weg, sondern dass für die Menschen das Römische Reich eigentlich der Staat war, in dem sie lebten und dass das Römische Reich eigentlich fortbestand und jetzt gerade in ner Krise war und eben lokale Autoritäten dieses Machtvakuum füllten und dass Karl der Große sich um 800 genau auf diese Tradition beruft, entspringt sicherlich aus dem noch vorhandenen Gefühl dafür, dass es da einen Staat gab, der halt gerade renoviert werden muss.
TC 21:33 – Outro
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