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DER WESTEN (1/3) - Wer sind wir eigentlich?

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Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.

Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Benjamin Stedler, Heinz Gorr, Jerzy May und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Joseph Hendrich, Tappei Nagatsuki, Yasheng Huang, Sadiq Abba, Anne Applebaum
Besonderer Linktipp der Redaktion:
WDR (2024): Killing Jack – Warum der Ripper-Mythos uns nicht loslässt
Es ist der wohl bekannteste True-Crime-Fall der Welt: Jack the Ripper. Was fasziniert uns am Mythos eines brutalen Frauenmörders? Und muss die Geschichte vom Ripper heute nicht ganz anders erzählt werden? In „Killing Jack“ gehen die Hosts Caro und Jürg zurück zur Geburt des vielleicht bekanntesten Cold Case der Welt. Dem Godfather of True Crime. Sie stoßen auf brutale Fakten; fragen, wie der Mythos entstand - und versuchen ihn zu killen. Warum? Und wie das gehen soll? ZUM PODCAST

Linktipps:
ARD alpha (2019): Andere Länder, andere Verbote
Wann darf der Staat etwas verbieten? Dana Newman, gebürtige Amerikanerin, fragt nach den Grenzen der individuellen Freiheit in Deutschland. Die ist zwar in der Verfassung vielfach garantiert, aber sie endet dort, wo sie Freiheiten anderer oder das Gemeinwohl berührt. Wo diese Grenze konkret erreicht ist, darüber wird in der Demokratie oft heftig gestritten. Die Reportage zeigt verschiedene Freiheitskämpfende – von Klimaaktivisten bis zum Ernährungswissenschaftler – und zeigt, dass Fakten und Vernunft längst nicht immer entscheiden sind, wenn es um die Freiheit geht. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk Kultur (2019): Warum sich der Westen neu erfinden muss
Viel zu lang habe der Westen gebraucht, um die Veränderungen im weltpolitischen Machtgefüge nach 1990 zu begreifen, kritisiert Ramon Schack. Und hat dabei vor allem den Aufstieg Chinas im Blick. Uns dagegen droht der Rückfall in die Mittelmäßigkeit. JETZT ANHÖREN


Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK

SPRECHER
Wer bin ich?... Wenn Sie jetzt befürchten, das könnte eine Folge über den Existenzialismus werden: Keine Angst. Aber je nachdem, wo Sie aufgewachsen sind, werden Sie diese Frage „Wer bin ich?“ höchstwahrscheinlich unterschiedlich beantworten. Wenn Sie mich, den Autor dieser Folge fragen, wer ich bin, dann würde ich Ihnen so antworten:
Jean-Marie Magro, Journalist, ich spreche in Mikrofone, fahre viel Rad, lese in meiner Freizeit, mal ein Sachbuch, mal eine japanische Romanreihe oder einen Manga. So in der Art. Ich definiere mich also über meinen Beruf und das, was ich gerne tue. In anderen Teilen der Welt klingt das völlig anders. Wenn Sie in einem malischen Dorf fragen würden, würde die Person höchstwahrscheinlich erst die Namen ihrer Eltern zitieren. In Südkorea ist das Alter entscheidend, weil man die Älteren respektieren muss. Und so gibt es ganz viele Beispiele. Joseph Henrich ist leidenschaftlicher Kayakfahrer, aber deshalb habe ich ihn nicht für diese Reihe interviewt. Henrich ist Professor für biologische Anthropologe an der Harvard University in Boston. Er sagt, dass viele Psychologen jahrzehntelang einem großen Irrtum aufgesessen seien:

1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Wir haben festgestellt, dass viele Forscher fast ausschließlich amerikanische Studenten oder Menschen in westlichen Gesellschaften, aber nur sehr wenige Menschen aus anderen Weltregionen untersucht haben. Und so haben diese Wissenschaftler allgemeine Annahmen vorgenommen und formuliert, die verzerrt waren.

SPRECHER
In Wahrheit ist nämlich nicht der Rest der Welt eigenartig, sondern wir – meint jedenfalls Joseph Henrich. Wer sind wir, wer ist der Westen?

MUSIK

Das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 1: Wer sind wir eigentlich? Da fängt das Problem schon an, weil es keine scharfe Trennlinie gibt. Sollte man die Mitgliedsstaaten der OECD nehmen, die NATO oder allgemein jene Länder, die Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte vertreten? Letzteres könnte auch Japan oder Taiwan miteinschließen. In den drei Folgen dieser Reihe möchte ich mich auf Nordamerika und die Europäische Union konzentrieren. Knapp über 800 Millionen Menschen.

MUSIK

Wir, die wir in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind und leben, sind also laut Joseph Henrich komisch. Wir tanzen aus der Reihe. Henrich hat einen weltweiten Bestseller geschrieben. Auf Deutsch heißt er „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Das Wort seltsam ist die Übersetzung für das englische WEIRD, ein Akronym, das Henrich und andere Psychologen gewählt haben. WEIRD steht in diesem Fall für Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Also westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch. Henrich meint, aus seinen Studien gehe hervor, dass wir im Westen, in Nordamerika und den europäischen Staaten, ganz anders auf die Welt blicken als alle anderen.

2 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Ein klassisches Beispiel: Sie geben einer Versuchsperson ein Bild mit einem Kaninchen und fragen, ob das Kaninchen besser zu einer Karotte oder zu einem Hund passt. Wenn Sie analytisch denken, würden Sie sagen: Kaninchen und Hund, beides Tiere. Wenn Sie aber holistisch, also ganzheitlich denken, suchen Sie nach Beziehungen. Diese Menschen denken: "Kaninchen fressen gerne Karotten, also gehören Kaninchen und Karotten zusammen. Und wenn man sich in der Welt umschaut, dann ist es so, dass die westlichen Gesellschaften die Orte sind, an denen das analytische Denken sehr stark ausgeprägt ist, und an anderen Orten ist es schwer, jemanden dazu zu finden, der eine analytische Entscheidung trifft.

MUSIK

SPRECHER
Ich persönlich habe mich immer als eine Person gesehen, die versucht, die Welt aus anderen Blickwinkeln und nicht nur durch meine deutsche Brille zu sehen. Das kommt alleine daher, dass ich einen französischen Vater habe und zweisprachig aufgewachsen bin. Ich bin schon lange von japanischer und südkoreanischer Popkultur fasziniert, habe mehrfach für die ARD in Nordwestafrika gearbeitet. Aber ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich bemerkt habe, dass ich WEIRD bin.

MUSIK

Es war in Tokio im Mai 2023. Ich habe den Schriftsteller Tappei Nagatsuki interviewt, der meine Lieblingsfantasy-Reihe schreibt. Nagatsuki schreibt darin echt gruselige Szenen, sein Protagonist Subaru muss unheimlich leiden. Ich habe dem Japaner dann die Frage gestellt, was er von dem, wie ich dachte, weltbekannten US-amerikanischen Autor John Irving hält. Der hat einmal gesagt, er entwerfe in seinen Romanen Figuren, die er wirklich liebt – und dann tue er ihnen das Schlimmste an, das ihm einfiele. Hier antwortet mir Tappei Nagatsuki:

3 Tappei Nagatsuki, japanischer Schriftsteller
Was dieser John Irving sagt, damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Je mehr ich Charaktere mag, umso schlimmere Sachen möchte ich Ihnen antun. Und da Subaru mein Protagonist ist, kriegt er am meisten ab. (lacht)

MUSIK

SPRECHER
Mein erster Reflex war: Er kennt John Irving nicht? Und kurz darauf fiel mir dann auf, wie sehr ich die Welt durch meine westliche Brille betrachtet hatte. Woher soll ein japanischer Fantasyautor vom anderen Ende der Welt einen amerikanischen Schriftsteller kennen? Nicht nur hierin unterscheidet sich unsere westliche, deutsche Öffentlichkeit von der östlich-japanischen. Der Anthropologe Joseph Henrich sagt, das hinge damit zusammen, dass im Westen die Schuld eine treibende Kraft für menschliches Handeln sei. In anderen Teilen der Welt dominiere jedoch die Scham:

4 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
In einigen Regionen der Welt ist es besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. Das führt oft zu Konformität und einer großen Sorge, wie man sich selbst darstellt. Der innere Geisteszustand spielt dabei keine große Rolle. Es geht um das äußere Verhalten und darum, wie sich die Menschen der Welt präsentieren. In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein. Hier neigen Menschen dazu, nicht Scham-, sondern Schuldgefühle zu haben.

SPRECHER
Ein Beispiel für solche Schuldgefühle: Sie können sich schlecht fühlen, weil sie nicht ins Fitnessstudio gegangen sind. Ihrem Nachbarn ist das wohl egal. Schämen würden sie sich also vor ihm nicht. Stattdessen fühlten sich im Westen viele dazu verpflichtet, etwas für sich und ihren Körper zu tun, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Es geht also um uns selbst, das Individuum. Ein Beispiel dafür ist das Tragen eines Mund-Nasenschutzes. In Japan gab es während der Corona-Pandemie nie eine Maskenpflicht – das war gar nicht nötig, die Menschen trugen sie freiwillig. In fast allen westlichen Staaten dagegen schon. In Europa und den USA wurde das Tragen von Masken zunehmend heftig kritisiert. Eines der am häufigsten genannten Argumente dabei war: Die Maskenpflicht schränke die individuelle Freiheit ein.

MUSIK

Warum sind wir so „eigenartig“? Und es geht ja noch viel weiter: Warum sind wir im Westen verhältnismäßig wohlhabend? Für Joseph Henrich ist dabei zentral, wie schnell sich Lesen und Schreiben in Europa ausgebreitet haben. Dabei hat ein gewisser Martin Luther vor über 500 Jahren eine wichtige Rolle gespielt:

5 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man kann an den deutschen historischen Daten tatsächlich ablesen, dass die Nähe zu Wittenberg einen Einfluss auf die Lese- und Schreibfähigkeit hatte. Je näher man also dem Zentrum der Reformation war, desto wahrscheinlicher war es, dass man auch im 19. Jahrhundert noch lesen und schreiben konnte.

SPRECHER
Die Reformation war also der Grundstein dafür, dass das sogenannte Abendland abhob? An dieser Stelle hilft vielleicht ein Blick von außen. Der Wirtschaftswissenschaftler Yasheng Huang ist Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston, kurz MIT. Er unterrichtet Internationales Management und leitet das China und India Lab an der Universität. Huang sagt, die Alphabetisierung allein kann nicht der ausschlaggebende Grund dafür sein, warum die Vereinigten Staaten und Europa über Jahrhunderte mehr Wohlstand schufen als China.

6 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
In China konnten schon recht früh verhältnismäßig viele Menschen lesen und schreiben. Die Zahl stagnierte dann aber. Im Westen war es umgekehrt. Am Anfang gab es relativ wenige Alphabeten, dann aber wurden es schnell immer mehr.

SPRECHER
Huang hat ein Buch geschrieben, das sich fast wie eine Fortsetzung von Joseph Henrichs „Die seltsamsten Menschen der Welt“ liest. Huangs Buch trägt den Titel: „The Rise and Fall of the EAST”, also Aufstieg und Fall des Ostens. Huang, 1960 in Peking geboren, meint: Die Stärke des Westens liegt in seiner Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Und das lasse sich schon vor rund 1000 Jahren sehen:

7 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
Die katholische Kirche erhob sich, um die damalige politische Autorität herauszufordern, und dann wurde die katholische Kirche selbst von anderen Ideen wie dem Protestantismus und weltlichen Ideen herausgefordert. Es entstand also ein Markt der Ideen.

MUSIK

SPRECHER
Vor dem sechsten Jahrhundert hatte es auch in China so einen Marktplatz der Ideen und auch einen regen Handel gegeben, sagt Huang. Es gab unterschiedliche Glaubensrichtungen: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus. Westen und Osten waren sich ähnlich, meint der Professor. Doch dann endete das abrupt. Huang meint, das hänge damit zusammen, dass in China ein Regime die Macht übernahm, das andere Ideen unterdrückte und nicht mehr herausgefordert wurde. Während im Westen die Revolutionen in den USA und Frankreich Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaatlichkeit hervorbrachten, wurden in China trotz mehrerer Rebellionen nur die Köpfe ausgetauscht, die Ordnung blieb gleich. Der Harvard-Anthropologe und Psychologe Joseph Henrich stimmt dem China-Experten zu: Die westliche Kirche spielt für den Westen und wie unsere Gesellschaften heute strukturiert sind, eine besonders wichtige Rolle. Verbot der Vielehe und des Heiratens enger Verwandter waren nur eine Sache. Die katholische Kirche hatte auch ihre eigene Streitmacht, erhob gegen die Königshäuser das Schwert. Rund 900 bis 1000 nach Christus schließen sich Menschen zu freiwilligen Vereinigungen zusammen. Auch und vor allem innerhalb der Kirche.

8 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man schloss sich einer Stadt oder einem Verein an, und wenn sich jemand von ihnen verletzte oder alt wurde, kümmerten sich die anderen um diese Person. Es handelte sich also um eine Art Versicherungssystem, das auf Gegenseitigkeit beruhte. An einigen Orten entstanden daraus Gilden. Das waren Berufsgilden vorstellen müssen, die als gegenseitige Selbsthilfe begannen und bestanden lange Zeit als Gesellschaften bestanden.

MUSIK

SPRECHER
Viele Historiker und Anthropologen sagen, dass diese freiwilligen sozialen Versicherungssysteme, die über die Familienbande hinausgehen, eine frühe Besonderheit westlicher Gesellschaften waren. Später, als es zu Abkommen zwischen Königen und Kirchen kam, wurde die katholische Kirche selbst durch den Protestantismus herausgefordert. Dazu kommen Revolutionen. Politische, wie etwa die amerikanische 1776 und die französische 1789, die jeweils zu gesellschaftlichen Umstürzen führten. Aber auch technologische wie die Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder der Elektrizität. Westliche Gesellschaften erlangen so einen Vorsprung, auch auf Kosten anderer Weltregionen. Dem Thema Kolonialismus wollen wir uns aber erst näher in der zweiten Folge widmen. Zuerst einmal sollten wir klären: Welche sind die Pfeiler des Westens? Einer, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Frage beschäftigt hat, ist Prof. Heinrich August Winkler. Der Historiker hat vier Bände über die Geschichte des Westens geschrieben. Er schlägt dabei einen weiten Bogen, über die alten Ägypter und das byzantinische Reich, die Magna Carta und die Bill of Rights bis ins Heute. Winkler spricht vom „normativen Projekt des Westens“:

9 Heinrich August Winkler, Historiker
Zu diesem Projekt gehören die Ideen der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaates oder der Rule of Law, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Man kann diese Ideen, auch die politische Konsequenz der Aufklärung nennen.

SPRECHER
Fassen wir mal all diese Punkte in einem Satz zusammen: Der Westen gründet auf dieser einen Idee:

10 Heinrich August Winkler, Historiker
Die Maxime, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, ist die säkularisierte Fassung des Satzes, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.

MUSIK

SPRECHER
Sprich: Die Trennung zwischen Staat und Religion, die Säkularisierung. Die hat auch im Westen unterschiedliche Formen. In Deutschland wird Kirchensteuer fällig und Religion an Schulen unterrichtet, in den USA werden Millionen Kinder zuhause unterrichtet, was vor allem Evangelikale und Erzkonservative in Anspruch nehmen. Frankreich hingegen bezeichnet sich als laizistischen Staat, Religion darf in öffentlichen Gebäuden im Prinzip nicht stattfinden. Die Trennung zwischen Staat und Religion, sagt Heinrich August Winkler, gehe auf ein Wort Jesu zurück. In der Bibel heißt es nämlich:

11 Heinrich August Winkler, Historiker
"Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Damit wird der weltlichen Gewalt eine Eigenverantwortung zugestanden und einem Gottesstaat oder einer Priesterherrschaft eine Absage erteilt.

SPRECHER
Wobei man natürlich immer wieder Einschränkungen machen muss. In einigen osteuropäischen Ländern spielt die Kirche in der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Sie werden nun vielleicht denken, dass die Kommunistische Partei in China auch keine Priesterherrschaft anstrebt. Doch was bei westlichen Demokratien besonders wichtig ist, sagt Heinrich August Winkler, ist die Gewaltenteilung, die Checks and Balances. Dass Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Gerichte unabhängig voneinander sind:

12 Heinrich August Winkler, Historiker
Für den Westen, das sogenannte Abendland, war diese Entwicklung grundlegend. Im Europa der Ostkirche, dem byzantinisch-orthodoxen Osten Europas, kam es nicht zu einer solchen Ausdifferenzierung der Gewalten und damit auch nicht zu einer freiheitlichen Evolution wie sie sich im Westen vollzogen hat.

MUSIK

SPRECHER
Grundlegend für das normative Projekt des Westens ist also die Teilung der Gewalten. Aus dem Vertrauen in den Rechtsstaat leiten Menschen im Westen ein Verständnis von Gerechtigkeit ab, das sich im Vergleich zu anderen Teilen der Welt grundlegend unterscheidet, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich beobachtet. Ein Gedankenexperiment veranschaulicht das deutlich: das sogenannte Passagierdilemma.

13 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Sie sind mit einem Freund oder einem Familienmitglied im Auto unterwegs. Sie stoßen mit jemandem zusammen, weil ihr Freund rücksichtslos gefahren ist und dabei stirbt die andere Person. Es gibt einen Rechtsstreit. Der Anwalt Ihres Freundes sagt Ihnen, dass niemand sonst den Unfall gesehen habe und wenn Sie aussagen, dass Ihr Freund nicht zu schnell gefahren ist, wird er freigesprochen. Wenn Sie aber die Wahrheit sagen, kommt Ihr Freund ins Gefängnis. Was also tun? An vielen Orten auf der Welt scheint es absurd, die Frage überhaupt zu stellen: Natürlich werde ich meinen Freund bzw. mein Familienmitglied unterstützen. Aber an manchen Orten sind die Menschen der Meinung, dass sie den Rechtsstaat respektieren müssen. Sie sind also eher geneigt, die Wahrheit zu sagen.

SPRECHER
Während also die einen – komme, was wolle – zu ihren Nächsten halten, finden in westlichen Gesellschaften die meisten Menschen, der Übeltäter habe eine Strafe verdient. Um also nochmal zusammenfassen: Westliche Gesellschaften sind im Vergleich zum Rest der Welt individueller, sie zeichnen sich dadurch aus, dass Staat und Religion zumindest zu einem gewissen Grad voneinander getrennt sind – und sie haben mehrheitlich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Dieser Prozess hat nicht gleichzeitig in allen westlichen Gesellschaften stattgefunden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution im Alten Westen selbst durchgesetzt haben. Heinrich August Winkler:

14 Heinrich August Winkler, Historiker
In Deutschland etwa wurde im 19. Jahrhundert zwar der Rechtsstaat verwirklicht, gegen die Ideen der allgemeinen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie aber gab es bis weit ins 20 Jahrhundert hinein vor allem bei den Herrschaftseliten und im gebildeten Bürgertum massive Vorbehalte. Der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die Ideen des Westens war die Herrschaft des Nationalsozialismus. Erst nach der totalen Niederlage von 1945 öffnete sich der westliche Teil Deutschlands auf breiter Front der politischen Kultur des Westens.

SPRECHER
Und in Ostdeutschland sind die Ideen des Westens erst nach dem Fall der Mauer eingeführt worden. Auch wenn die DDR rhetorisch versuchte, diese Werte zu repräsentieren: Es gab keine freien Wahlen und erst recht keinen von der Partei unabhängigen, funktionierenden Rechtsstaat. Keine individuelle Freiheit, sondern der Versuch der absoluten Kontrolle. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurde damals mit seiner These berühmt, die liberale Demokratie habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesiegt. Die Geschichte sei nun zu Ende.

15 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Sieg der Freiheit, der 1989 gefeiert wurde, war aber kein weltweiter Sieg. Russland wurde nur zeitweise und oberflächlich von den revolutionären Ideen des Westens erfasst. In China wurden die Freiheitsbestrebungen der akademischen Jugend im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig unterdrückt. Die Geschichte ist 1989 / 90 eben nicht zu Ende gegangen, sie ist in ein neues Stadium eingetreten.

MUSIK

SPRECHER
Die westlichen Ideen – Demokratie, Rechtsstaat, unabhängige Medien, der Schutz von Minderheiten – , sie müssen sich heute aber in jeder westlichen Gesellschaft Angriffen erwehren, sagt Anne Applebaum. Die Journalistin ist eine der anerkanntesten Expertinnen für Osteuropa und Russland. Für ihr Werk „Der Gulag“, in dem sie über die sowjetischen Gefangenenlager schreibt, erhielt sie den weltweit wichtigsten Journalistenpreis, den Pulitzer-Preis. Im Oktober 2024 wurde außerdem sie mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Applebaum ist mit dem aktuellen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet und lebt seit vielen Jahren in Polen. Die Amerikanerin schrieb seit Jahren über die rechtsnationale PiS-Regierung in Warschau, die Staatsmedien und Gerichte nach ihrem Geschmack besetzte. 2023 verlor die PiS jedoch die Mehrheit an eine Koalition aus Liberalen, Konservativen und Linken. Das Bündnis versucht nun, die Entscheidungen der PiS rückabzuwickeln.

16 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Diese Veränderung wird von der Bevölkerung in hohem Maße unterstützt. Die Regierungskoalition verfügt über eine klare Mehrheit und hat eine große öffentliche Unterstützung. Aber es wird hart. Es ist viel einfacher, den Rechtsstaat zu zerstören, als ihn wiederherzustellen.

SPRECHER
Applebaum hat schon vor Jahren in Essays und ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“ gewarnt: Die Gleichschaltung der Medien und die Beschneidung des Rechtsstaats passierten in Ungarn und Polen nicht nur, weil diese Länder Republiken der ehemaligen Sowjetunion waren.

17 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Fast jede westliche Demokratie ist von diesen ideologischen Angriffen gegen die Demokratie ausgesetzt, wenn sie auch an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen annehmen. Die extreme Rechte und die extreme Linke könnten sowohl die französische als auch die deutsche Demokratie bedrohen. Die Vereinigten Staaten, Polen und Ungarn: Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit.

MUSIK

SPRECHER
Was sind die Gründe für die Krise des Westens? Es ist unstrittig, dass die westlichen Staaten, allen voran die europäischen, international an Bedeutung verlieren. Ihr Anteil an der Bevölkerung und an der Weltwirtschaft wird kleiner. Diese Tatsachen sind aber nur eine Erklärung für die Krise. Wesentlich sind für Anne Applebaum die Folgen der gegenwärtigen Kommunikationstechnologie. Sie führen dazu, befürchtet die Journalistin, dass in westlichen Gesellschaften immer mehr Menschen Vertrauen in Demokratie und seine Repräsentanten verlieren:

18 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es geht um eine demokratische Krise, die mit den Entwicklungen zusammenhängt, die uns die moderne Wirtschaft und das moderne Informationssystem gebracht haben. Also wie Menschen untereinander kommunizieren und an politische Informationen gelangen und sie verarbeiten. Da gibt es ähnliche Muster in wirklich jeder westlichen Demokratie.

SPRECHER
Zu einer gut funktionierenden Demokratie gehört, dass die Bevölkerung frei und geheim ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen kann. Das Ergebnis muss von allen Seiten akzeptiert werden. Schon hier merkt man, dass dies keine Selbstverständlichkeit mehr in westlichen Ländern ist.

MUSIK

In dieser Folge haben wir uns damit beschäftigt, was uns Menschen im Westen ausmacht, was die Grundpfeiler des Westens sind und wie sie entstanden sind, und wir haben angeschnitten, warum sich westliche Demokratien in der Krise befinden. Freiheit, die Gleichheit von Menschen, Demokratie und der Rechtsstaat. Viele würden diese Grundsätze wahrscheinlich unterschreiben und stolz auf sie sein. In der nächsten Folge wollen wir uns aber damit beschäftigen, wie der Rest der Welt auf den Westen blickt. Und was soll man sagen: Dort wird ganz anders empfunden:

19 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 1
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.

MUSIK

SPRECHER
Ich bin Jean-Marie Magro, und das war die erste Folge des Dreiteilers „Der Westen“: Wer sind wir eigentlich? Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.

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Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.

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Autor: Jean-Marie Magro
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Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Benjamin Stedler, Heinz Gorr, Jerzy May und Hemma Michel
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Es ist der wohl bekannteste True-Crime-Fall der Welt: Jack the Ripper. Was fasziniert uns am Mythos eines brutalen Frauenmörders? Und muss die Geschichte vom Ripper heute nicht ganz anders erzählt werden? In „Killing Jack“ gehen die Hosts Caro und Jürg zurück zur Geburt des vielleicht bekanntesten Cold Case der Welt. Dem Godfather of True Crime. Sie stoßen auf brutale Fakten; fragen, wie der Mythos entstand - und versuchen ihn zu killen. Warum? Und wie das gehen soll? ZUM PODCAST

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Wann darf der Staat etwas verbieten? Dana Newman, gebürtige Amerikanerin, fragt nach den Grenzen der individuellen Freiheit in Deutschland. Die ist zwar in der Verfassung vielfach garantiert, aber sie endet dort, wo sie Freiheiten anderer oder das Gemeinwohl berührt. Wo diese Grenze konkret erreicht ist, darüber wird in der Demokratie oft heftig gestritten. Die Reportage zeigt verschiedene Freiheitskämpfende – von Klimaaktivisten bis zum Ernährungswissenschaftler – und zeigt, dass Fakten und Vernunft längst nicht immer entscheiden sind, wenn es um die Freiheit geht. JETZT ANSEHEN
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Viel zu lang habe der Westen gebraucht, um die Veränderungen im weltpolitischen Machtgefüge nach 1990 zu begreifen, kritisiert Ramon Schack. Und hat dabei vor allem den Aufstieg Chinas im Blick. Uns dagegen droht der Rückfall in die Mittelmäßigkeit. JETZT ANHÖREN


Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Wer bin ich?... Wenn Sie jetzt befürchten, das könnte eine Folge über den Existenzialismus werden: Keine Angst. Aber je nachdem, wo Sie aufgewachsen sind, werden Sie diese Frage „Wer bin ich?“ höchstwahrscheinlich unterschiedlich beantworten. Wenn Sie mich, den Autor dieser Folge fragen, wer ich bin, dann würde ich Ihnen so antworten:
Jean-Marie Magro, Journalist, ich spreche in Mikrofone, fahre viel Rad, lese in meiner Freizeit, mal ein Sachbuch, mal eine japanische Romanreihe oder einen Manga. So in der Art. Ich definiere mich also über meinen Beruf und das, was ich gerne tue. In anderen Teilen der Welt klingt das völlig anders. Wenn Sie in einem malischen Dorf fragen würden, würde die Person höchstwahrscheinlich erst die Namen ihrer Eltern zitieren. In Südkorea ist das Alter entscheidend, weil man die Älteren respektieren muss. Und so gibt es ganz viele Beispiele. Joseph Henrich ist leidenschaftlicher Kayakfahrer, aber deshalb habe ich ihn nicht für diese Reihe interviewt. Henrich ist Professor für biologische Anthropologe an der Harvard University in Boston. Er sagt, dass viele Psychologen jahrzehntelang einem großen Irrtum aufgesessen seien:

1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Wir haben festgestellt, dass viele Forscher fast ausschließlich amerikanische Studenten oder Menschen in westlichen Gesellschaften, aber nur sehr wenige Menschen aus anderen Weltregionen untersucht haben. Und so haben diese Wissenschaftler allgemeine Annahmen vorgenommen und formuliert, die verzerrt waren.

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In Wahrheit ist nämlich nicht der Rest der Welt eigenartig, sondern wir – meint jedenfalls Joseph Henrich. Wer sind wir, wer ist der Westen?

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Das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 1: Wer sind wir eigentlich? Da fängt das Problem schon an, weil es keine scharfe Trennlinie gibt. Sollte man die Mitgliedsstaaten der OECD nehmen, die NATO oder allgemein jene Länder, die Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte vertreten? Letzteres könnte auch Japan oder Taiwan miteinschließen. In den drei Folgen dieser Reihe möchte ich mich auf Nordamerika und die Europäische Union konzentrieren. Knapp über 800 Millionen Menschen.

MUSIK

Wir, die wir in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind und leben, sind also laut Joseph Henrich komisch. Wir tanzen aus der Reihe. Henrich hat einen weltweiten Bestseller geschrieben. Auf Deutsch heißt er „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Das Wort seltsam ist die Übersetzung für das englische WEIRD, ein Akronym, das Henrich und andere Psychologen gewählt haben. WEIRD steht in diesem Fall für Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Also westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch. Henrich meint, aus seinen Studien gehe hervor, dass wir im Westen, in Nordamerika und den europäischen Staaten, ganz anders auf die Welt blicken als alle anderen.

2 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Ein klassisches Beispiel: Sie geben einer Versuchsperson ein Bild mit einem Kaninchen und fragen, ob das Kaninchen besser zu einer Karotte oder zu einem Hund passt. Wenn Sie analytisch denken, würden Sie sagen: Kaninchen und Hund, beides Tiere. Wenn Sie aber holistisch, also ganzheitlich denken, suchen Sie nach Beziehungen. Diese Menschen denken: "Kaninchen fressen gerne Karotten, also gehören Kaninchen und Karotten zusammen. Und wenn man sich in der Welt umschaut, dann ist es so, dass die westlichen Gesellschaften die Orte sind, an denen das analytische Denken sehr stark ausgeprägt ist, und an anderen Orten ist es schwer, jemanden dazu zu finden, der eine analytische Entscheidung trifft.

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Ich persönlich habe mich immer als eine Person gesehen, die versucht, die Welt aus anderen Blickwinkeln und nicht nur durch meine deutsche Brille zu sehen. Das kommt alleine daher, dass ich einen französischen Vater habe und zweisprachig aufgewachsen bin. Ich bin schon lange von japanischer und südkoreanischer Popkultur fasziniert, habe mehrfach für die ARD in Nordwestafrika gearbeitet. Aber ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich bemerkt habe, dass ich WEIRD bin.

MUSIK

Es war in Tokio im Mai 2023. Ich habe den Schriftsteller Tappei Nagatsuki interviewt, der meine Lieblingsfantasy-Reihe schreibt. Nagatsuki schreibt darin echt gruselige Szenen, sein Protagonist Subaru muss unheimlich leiden. Ich habe dem Japaner dann die Frage gestellt, was er von dem, wie ich dachte, weltbekannten US-amerikanischen Autor John Irving hält. Der hat einmal gesagt, er entwerfe in seinen Romanen Figuren, die er wirklich liebt – und dann tue er ihnen das Schlimmste an, das ihm einfiele. Hier antwortet mir Tappei Nagatsuki:

3 Tappei Nagatsuki, japanischer Schriftsteller
Was dieser John Irving sagt, damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Je mehr ich Charaktere mag, umso schlimmere Sachen möchte ich Ihnen antun. Und da Subaru mein Protagonist ist, kriegt er am meisten ab. (lacht)

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Mein erster Reflex war: Er kennt John Irving nicht? Und kurz darauf fiel mir dann auf, wie sehr ich die Welt durch meine westliche Brille betrachtet hatte. Woher soll ein japanischer Fantasyautor vom anderen Ende der Welt einen amerikanischen Schriftsteller kennen? Nicht nur hierin unterscheidet sich unsere westliche, deutsche Öffentlichkeit von der östlich-japanischen. Der Anthropologe Joseph Henrich sagt, das hinge damit zusammen, dass im Westen die Schuld eine treibende Kraft für menschliches Handeln sei. In anderen Teilen der Welt dominiere jedoch die Scham:

4 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
In einigen Regionen der Welt ist es besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. Das führt oft zu Konformität und einer großen Sorge, wie man sich selbst darstellt. Der innere Geisteszustand spielt dabei keine große Rolle. Es geht um das äußere Verhalten und darum, wie sich die Menschen der Welt präsentieren. In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein. Hier neigen Menschen dazu, nicht Scham-, sondern Schuldgefühle zu haben.

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Ein Beispiel für solche Schuldgefühle: Sie können sich schlecht fühlen, weil sie nicht ins Fitnessstudio gegangen sind. Ihrem Nachbarn ist das wohl egal. Schämen würden sie sich also vor ihm nicht. Stattdessen fühlten sich im Westen viele dazu verpflichtet, etwas für sich und ihren Körper zu tun, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Es geht also um uns selbst, das Individuum. Ein Beispiel dafür ist das Tragen eines Mund-Nasenschutzes. In Japan gab es während der Corona-Pandemie nie eine Maskenpflicht – das war gar nicht nötig, die Menschen trugen sie freiwillig. In fast allen westlichen Staaten dagegen schon. In Europa und den USA wurde das Tragen von Masken zunehmend heftig kritisiert. Eines der am häufigsten genannten Argumente dabei war: Die Maskenpflicht schränke die individuelle Freiheit ein.

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Warum sind wir so „eigenartig“? Und es geht ja noch viel weiter: Warum sind wir im Westen verhältnismäßig wohlhabend? Für Joseph Henrich ist dabei zentral, wie schnell sich Lesen und Schreiben in Europa ausgebreitet haben. Dabei hat ein gewisser Martin Luther vor über 500 Jahren eine wichtige Rolle gespielt:

5 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man kann an den deutschen historischen Daten tatsächlich ablesen, dass die Nähe zu Wittenberg einen Einfluss auf die Lese- und Schreibfähigkeit hatte. Je näher man also dem Zentrum der Reformation war, desto wahrscheinlicher war es, dass man auch im 19. Jahrhundert noch lesen und schreiben konnte.

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Die Reformation war also der Grundstein dafür, dass das sogenannte Abendland abhob? An dieser Stelle hilft vielleicht ein Blick von außen. Der Wirtschaftswissenschaftler Yasheng Huang ist Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston, kurz MIT. Er unterrichtet Internationales Management und leitet das China und India Lab an der Universität. Huang sagt, die Alphabetisierung allein kann nicht der ausschlaggebende Grund dafür sein, warum die Vereinigten Staaten und Europa über Jahrhunderte mehr Wohlstand schufen als China.

6 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
In China konnten schon recht früh verhältnismäßig viele Menschen lesen und schreiben. Die Zahl stagnierte dann aber. Im Westen war es umgekehrt. Am Anfang gab es relativ wenige Alphabeten, dann aber wurden es schnell immer mehr.

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Huang hat ein Buch geschrieben, das sich fast wie eine Fortsetzung von Joseph Henrichs „Die seltsamsten Menschen der Welt“ liest. Huangs Buch trägt den Titel: „The Rise and Fall of the EAST”, also Aufstieg und Fall des Ostens. Huang, 1960 in Peking geboren, meint: Die Stärke des Westens liegt in seiner Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Und das lasse sich schon vor rund 1000 Jahren sehen:

7 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
Die katholische Kirche erhob sich, um die damalige politische Autorität herauszufordern, und dann wurde die katholische Kirche selbst von anderen Ideen wie dem Protestantismus und weltlichen Ideen herausgefordert. Es entstand also ein Markt der Ideen.

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Vor dem sechsten Jahrhundert hatte es auch in China so einen Marktplatz der Ideen und auch einen regen Handel gegeben, sagt Huang. Es gab unterschiedliche Glaubensrichtungen: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus. Westen und Osten waren sich ähnlich, meint der Professor. Doch dann endete das abrupt. Huang meint, das hänge damit zusammen, dass in China ein Regime die Macht übernahm, das andere Ideen unterdrückte und nicht mehr herausgefordert wurde. Während im Westen die Revolutionen in den USA und Frankreich Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaatlichkeit hervorbrachten, wurden in China trotz mehrerer Rebellionen nur die Köpfe ausgetauscht, die Ordnung blieb gleich. Der Harvard-Anthropologe und Psychologe Joseph Henrich stimmt dem China-Experten zu: Die westliche Kirche spielt für den Westen und wie unsere Gesellschaften heute strukturiert sind, eine besonders wichtige Rolle. Verbot der Vielehe und des Heiratens enger Verwandter waren nur eine Sache. Die katholische Kirche hatte auch ihre eigene Streitmacht, erhob gegen die Königshäuser das Schwert. Rund 900 bis 1000 nach Christus schließen sich Menschen zu freiwilligen Vereinigungen zusammen. Auch und vor allem innerhalb der Kirche.

8 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man schloss sich einer Stadt oder einem Verein an, und wenn sich jemand von ihnen verletzte oder alt wurde, kümmerten sich die anderen um diese Person. Es handelte sich also um eine Art Versicherungssystem, das auf Gegenseitigkeit beruhte. An einigen Orten entstanden daraus Gilden. Das waren Berufsgilden vorstellen müssen, die als gegenseitige Selbsthilfe begannen und bestanden lange Zeit als Gesellschaften bestanden.

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Viele Historiker und Anthropologen sagen, dass diese freiwilligen sozialen Versicherungssysteme, die über die Familienbande hinausgehen, eine frühe Besonderheit westlicher Gesellschaften waren. Später, als es zu Abkommen zwischen Königen und Kirchen kam, wurde die katholische Kirche selbst durch den Protestantismus herausgefordert. Dazu kommen Revolutionen. Politische, wie etwa die amerikanische 1776 und die französische 1789, die jeweils zu gesellschaftlichen Umstürzen führten. Aber auch technologische wie die Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder der Elektrizität. Westliche Gesellschaften erlangen so einen Vorsprung, auch auf Kosten anderer Weltregionen. Dem Thema Kolonialismus wollen wir uns aber erst näher in der zweiten Folge widmen. Zuerst einmal sollten wir klären: Welche sind die Pfeiler des Westens? Einer, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Frage beschäftigt hat, ist Prof. Heinrich August Winkler. Der Historiker hat vier Bände über die Geschichte des Westens geschrieben. Er schlägt dabei einen weiten Bogen, über die alten Ägypter und das byzantinische Reich, die Magna Carta und die Bill of Rights bis ins Heute. Winkler spricht vom „normativen Projekt des Westens“:

9 Heinrich August Winkler, Historiker
Zu diesem Projekt gehören die Ideen der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaates oder der Rule of Law, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Man kann diese Ideen, auch die politische Konsequenz der Aufklärung nennen.

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Fassen wir mal all diese Punkte in einem Satz zusammen: Der Westen gründet auf dieser einen Idee:

10 Heinrich August Winkler, Historiker
Die Maxime, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, ist die säkularisierte Fassung des Satzes, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.

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Sprich: Die Trennung zwischen Staat und Religion, die Säkularisierung. Die hat auch im Westen unterschiedliche Formen. In Deutschland wird Kirchensteuer fällig und Religion an Schulen unterrichtet, in den USA werden Millionen Kinder zuhause unterrichtet, was vor allem Evangelikale und Erzkonservative in Anspruch nehmen. Frankreich hingegen bezeichnet sich als laizistischen Staat, Religion darf in öffentlichen Gebäuden im Prinzip nicht stattfinden. Die Trennung zwischen Staat und Religion, sagt Heinrich August Winkler, gehe auf ein Wort Jesu zurück. In der Bibel heißt es nämlich:

11 Heinrich August Winkler, Historiker
"Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Damit wird der weltlichen Gewalt eine Eigenverantwortung zugestanden und einem Gottesstaat oder einer Priesterherrschaft eine Absage erteilt.

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Wobei man natürlich immer wieder Einschränkungen machen muss. In einigen osteuropäischen Ländern spielt die Kirche in der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Sie werden nun vielleicht denken, dass die Kommunistische Partei in China auch keine Priesterherrschaft anstrebt. Doch was bei westlichen Demokratien besonders wichtig ist, sagt Heinrich August Winkler, ist die Gewaltenteilung, die Checks and Balances. Dass Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Gerichte unabhängig voneinander sind:

12 Heinrich August Winkler, Historiker
Für den Westen, das sogenannte Abendland, war diese Entwicklung grundlegend. Im Europa der Ostkirche, dem byzantinisch-orthodoxen Osten Europas, kam es nicht zu einer solchen Ausdifferenzierung der Gewalten und damit auch nicht zu einer freiheitlichen Evolution wie sie sich im Westen vollzogen hat.

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Grundlegend für das normative Projekt des Westens ist also die Teilung der Gewalten. Aus dem Vertrauen in den Rechtsstaat leiten Menschen im Westen ein Verständnis von Gerechtigkeit ab, das sich im Vergleich zu anderen Teilen der Welt grundlegend unterscheidet, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich beobachtet. Ein Gedankenexperiment veranschaulicht das deutlich: das sogenannte Passagierdilemma.

13 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Sie sind mit einem Freund oder einem Familienmitglied im Auto unterwegs. Sie stoßen mit jemandem zusammen, weil ihr Freund rücksichtslos gefahren ist und dabei stirbt die andere Person. Es gibt einen Rechtsstreit. Der Anwalt Ihres Freundes sagt Ihnen, dass niemand sonst den Unfall gesehen habe und wenn Sie aussagen, dass Ihr Freund nicht zu schnell gefahren ist, wird er freigesprochen. Wenn Sie aber die Wahrheit sagen, kommt Ihr Freund ins Gefängnis. Was also tun? An vielen Orten auf der Welt scheint es absurd, die Frage überhaupt zu stellen: Natürlich werde ich meinen Freund bzw. mein Familienmitglied unterstützen. Aber an manchen Orten sind die Menschen der Meinung, dass sie den Rechtsstaat respektieren müssen. Sie sind also eher geneigt, die Wahrheit zu sagen.

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Während also die einen – komme, was wolle – zu ihren Nächsten halten, finden in westlichen Gesellschaften die meisten Menschen, der Übeltäter habe eine Strafe verdient. Um also nochmal zusammenfassen: Westliche Gesellschaften sind im Vergleich zum Rest der Welt individueller, sie zeichnen sich dadurch aus, dass Staat und Religion zumindest zu einem gewissen Grad voneinander getrennt sind – und sie haben mehrheitlich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Dieser Prozess hat nicht gleichzeitig in allen westlichen Gesellschaften stattgefunden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution im Alten Westen selbst durchgesetzt haben. Heinrich August Winkler:

14 Heinrich August Winkler, Historiker
In Deutschland etwa wurde im 19. Jahrhundert zwar der Rechtsstaat verwirklicht, gegen die Ideen der allgemeinen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie aber gab es bis weit ins 20 Jahrhundert hinein vor allem bei den Herrschaftseliten und im gebildeten Bürgertum massive Vorbehalte. Der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die Ideen des Westens war die Herrschaft des Nationalsozialismus. Erst nach der totalen Niederlage von 1945 öffnete sich der westliche Teil Deutschlands auf breiter Front der politischen Kultur des Westens.

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Und in Ostdeutschland sind die Ideen des Westens erst nach dem Fall der Mauer eingeführt worden. Auch wenn die DDR rhetorisch versuchte, diese Werte zu repräsentieren: Es gab keine freien Wahlen und erst recht keinen von der Partei unabhängigen, funktionierenden Rechtsstaat. Keine individuelle Freiheit, sondern der Versuch der absoluten Kontrolle. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurde damals mit seiner These berühmt, die liberale Demokratie habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesiegt. Die Geschichte sei nun zu Ende.

15 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Sieg der Freiheit, der 1989 gefeiert wurde, war aber kein weltweiter Sieg. Russland wurde nur zeitweise und oberflächlich von den revolutionären Ideen des Westens erfasst. In China wurden die Freiheitsbestrebungen der akademischen Jugend im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig unterdrückt. Die Geschichte ist 1989 / 90 eben nicht zu Ende gegangen, sie ist in ein neues Stadium eingetreten.

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Die westlichen Ideen – Demokratie, Rechtsstaat, unabhängige Medien, der Schutz von Minderheiten – , sie müssen sich heute aber in jeder westlichen Gesellschaft Angriffen erwehren, sagt Anne Applebaum. Die Journalistin ist eine der anerkanntesten Expertinnen für Osteuropa und Russland. Für ihr Werk „Der Gulag“, in dem sie über die sowjetischen Gefangenenlager schreibt, erhielt sie den weltweit wichtigsten Journalistenpreis, den Pulitzer-Preis. Im Oktober 2024 wurde außerdem sie mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Applebaum ist mit dem aktuellen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet und lebt seit vielen Jahren in Polen. Die Amerikanerin schrieb seit Jahren über die rechtsnationale PiS-Regierung in Warschau, die Staatsmedien und Gerichte nach ihrem Geschmack besetzte. 2023 verlor die PiS jedoch die Mehrheit an eine Koalition aus Liberalen, Konservativen und Linken. Das Bündnis versucht nun, die Entscheidungen der PiS rückabzuwickeln.

16 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Diese Veränderung wird von der Bevölkerung in hohem Maße unterstützt. Die Regierungskoalition verfügt über eine klare Mehrheit und hat eine große öffentliche Unterstützung. Aber es wird hart. Es ist viel einfacher, den Rechtsstaat zu zerstören, als ihn wiederherzustellen.

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Applebaum hat schon vor Jahren in Essays und ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“ gewarnt: Die Gleichschaltung der Medien und die Beschneidung des Rechtsstaats passierten in Ungarn und Polen nicht nur, weil diese Länder Republiken der ehemaligen Sowjetunion waren.

17 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Fast jede westliche Demokratie ist von diesen ideologischen Angriffen gegen die Demokratie ausgesetzt, wenn sie auch an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen annehmen. Die extreme Rechte und die extreme Linke könnten sowohl die französische als auch die deutsche Demokratie bedrohen. Die Vereinigten Staaten, Polen und Ungarn: Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit.

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Was sind die Gründe für die Krise des Westens? Es ist unstrittig, dass die westlichen Staaten, allen voran die europäischen, international an Bedeutung verlieren. Ihr Anteil an der Bevölkerung und an der Weltwirtschaft wird kleiner. Diese Tatsachen sind aber nur eine Erklärung für die Krise. Wesentlich sind für Anne Applebaum die Folgen der gegenwärtigen Kommunikationstechnologie. Sie führen dazu, befürchtet die Journalistin, dass in westlichen Gesellschaften immer mehr Menschen Vertrauen in Demokratie und seine Repräsentanten verlieren:

18 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es geht um eine demokratische Krise, die mit den Entwicklungen zusammenhängt, die uns die moderne Wirtschaft und das moderne Informationssystem gebracht haben. Also wie Menschen untereinander kommunizieren und an politische Informationen gelangen und sie verarbeiten. Da gibt es ähnliche Muster in wirklich jeder westlichen Demokratie.

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Zu einer gut funktionierenden Demokratie gehört, dass die Bevölkerung frei und geheim ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen kann. Das Ergebnis muss von allen Seiten akzeptiert werden. Schon hier merkt man, dass dies keine Selbstverständlichkeit mehr in westlichen Ländern ist.

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In dieser Folge haben wir uns damit beschäftigt, was uns Menschen im Westen ausmacht, was die Grundpfeiler des Westens sind und wie sie entstanden sind, und wir haben angeschnitten, warum sich westliche Demokratien in der Krise befinden. Freiheit, die Gleichheit von Menschen, Demokratie und der Rechtsstaat. Viele würden diese Grundsätze wahrscheinlich unterschreiben und stolz auf sie sein. In der nächsten Folge wollen wir uns aber damit beschäftigen, wie der Rest der Welt auf den Westen blickt. Und was soll man sagen: Dort wird ganz anders empfunden:

19 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 1
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.

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Ich bin Jean-Marie Magro, und das war die erste Folge des Dreiteilers „Der Westen“: Wer sind wir eigentlich? Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.

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