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Warum „Netflix“ schauen, wenn man Christian Krachts „Air“ lesen kann?
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Christian Krachts Roman „Air“ ist eine rätselhafte Identitätssuche, die Grausames in zitierfähiger Sprache erzählt. Ein literarischer Wurf, der an Krachts Sinnsucherdrama „1979“ erinnert, das während der iranischen Revolutionswirren spielt. Mit dem ersten Satz beginnt auch schon das virtuose Spiel des Romans: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich." Rätselhaft und provokativ wirkt die Formulierung, denn die Grausamkeiten, die in Christian Krachts neuem Prosawerk „Air“ beschrieben werden, geben durchaus Anlass, sich Sorgen zu machen. Aber welches Leben ist überhaupt gemeint und warum könnte die Wahrnehmung trügen? Über die vertraute und doch fremde Welt, die im ersten Erzählstrang geschildert wird, urteilt der allwissende Erzähler folgendermaßen: „Es war eine Zeit, in der viele Dinge schnell erworben und wieder vergessen wurden."
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Lifestyle-Exzentrik vor rauer Landschaftskulisse
Das Verschwinden bzw. Bewahren der Erinnerungen wird noch eine wichtige Rolle spielen in dem Buch, das zunächst das Portrait einer klassischen Christian-Kracht-Figur liefert, die in passenden Adjektiv-Orgien schwelgt: Der feinsinnige, leicht verschrobene und stets an sich zweifelnde Schweizer Inneneinrichter Paul lebt zurückgezogen auf dem schottischen Orkney-Archipel, hat aber genug zu tun, um seinen distinguierten Lifestyle am Nordrand der europäischen Zivilisation zu finanzieren.Der erste Auftrag war ein sehr streng minimalistisches, gläsernes Cottage auf den Shetlandinseln gewesen, das er einrichten sollte. Er ließ alles steingrau streichen, Decken, Wände, Fußböden, Einbauschränke, einfach alles, und dann ließ er ein paar naturbelassene Felsen nebeneinander auf den frisch gestrichenen Fußboden des Wohnzimmers legen, so daß die Unterseite der Steine ganz leicht die frische graue Farbe reflektierte.Pauls Vorliebe für monochrome Gestaltungsideen erregt die Aufmerksamkeit eines anderen Schöngeists namens Cohen, der nicht nur eine ambitionierte Design-Zeitschrift herausbringt, sondern auch seltsame Aufträge zu vergeben hat. Paul möge doch bitte ein riesiges Rechenzentrum in Norwegen, in dem die digitalen Erinnerungen der Menschheit gespeichert sind, farblich umgestalten: „Und Cohen sagte nun, Paul solle alles weiß malen, die ganze Halle. Die Rechner, die Wände, die Decke, den Fußboden. Vermutungen, Vorstellungen und Erinnerungen würden sich in so großen Mengen im Green Mountain Datenzentrum ballen, daß ein weißgestrichener Raum für Aufgeräumtheit sorgen würde, und dafür bräuchte man nicht irgendein Weiß, sondern das perfekte, das einmalige Weiß."Quelle: Christian Kracht – Air
Raumsprung in eine düstere Parallelwelt
Paul fragt sich zwar, ob er „Cohens Marionette“ sei, doch er fliegt selbstverständlich nach Norwegen, um sich die Computerhalle anzuschauen. Während der neugierige Dekorateur durch die Anlage wandelt und sich von der „Gigantomie des Projekts“ berauschen lässt, ereignet sich im Weltall eine „außergewöhnliche Sonneneruption“ – mit der Folge, dass ein „schockwellenartiger Magnetsturm mit Lichtgeschwindigkeit Richtung Erde“ rast. Der große Energiewirbel markiert den entscheidenden Wendepunkt des Romans, der sich nun vom Genre, aber auch im Tonfall ändert. Denn Paul hat sich titelgerecht in Luft aufgelöst: „Fast achtzig Menschen suchten mehrere Stunden alles in der Halle nach ihm ab, aber er war nicht mehr da." Ganz verschwunden ist Paul trotzdem nicht, er lebt nurmehr in einer anderen Dimension, romantechnisch könnte man sagen: in der zweiten Erzählebene weiter, nämlich in einer blutigen Fantasy-Welt, die an die berühmten Streaming-Serie „Game of Thrones“ erinnert: Es gibt verschiedene Reiche, geheimnisvolle Eismenschen und eine Gemeinschaft, die in einer Steinstadt lebt.„Magische“ Erfindungen wie Brillengläser
Eine Seuche zieht durchs Land, und als wäre der „Gelbe Tod“ nicht schon Übel genug, terrorisieren die Soldaten des Fürsten von Tviot die darbende Bevölkerung nicht nur im grünen Norden, sondern auch in südlichen Gefilden: „Er lässt die Menschen wegen der kleinsten Kleinigkeit in den Dornenturm sperren oder aufs Rad binden." In derart mittelalterliche Verhältnisse wird Paul katapultiert, und er bekommt auch gleich einen Pfeil in den Rücken geschossen. Zum Glück hat der Mann es nicht mit den Häschern des Herzogs zu tun, sondern mit dem freundlichen und schlauen Waisenkind Ildr, das den Verletzten umgehend versorgt. Nach erster Skepsis und kuriosen Gesprächen über „magische“ Erfindungen wie Brillengläser fliehen die beiden dann auch Richtung Steinstadt, in der die Menschen in kargen Behausungen am Meer eine Kollektivutopie leben:Wer allein schlafen wollte, galt als eigennütziger Sonderling und wurde sanft, aber mit Nachdruck davon überzeugt, daß die Kraft der Steinstadt einzig in der Gemeinschaft lag.Quelle: Christian Kracht – Air
Rätselhaft, verspielt, magisch
Christian Kracht entwickelt erstaunlich stimmungsvolle Szenen im Reich der sozialistischen Steinmenschen, und so stellt sich bei zunehmender Lektüre die Frage, worauf die Geschichte hinauslaufen mag, wie die Erzählwelten in der wahrlich luftigen Romankonstruktion verbunden sind. Handelt es sich um eine temporäre Zeitreise, um endlos verschlungene Träume oder um eine Abenteuergeschichte im digitalen Gedächtnis der Figuren, die gewissermaßen auf den Spuren ihrer kulturellen Erinnerung sind? Kracht, der mit einer Fülle von Details und kuriosen Einfällen beeindruckt, gibt keine abschließende Antwort. Allein die Kraft der literarischen Fiktion stellt eine Verbindung der Welten her, die sich in ihrer Gegensätzlichkeit erstaunlich ähnlich sind. So kann man viele Passagen, wenn man es denn will, ideologiekritisch gegenüber der Neigung des Menschen lesen, sich seiner Umgebung allzu schnell anzupassen. Der Schriftsteller beweist zumindest Humor, wenn er im altertümlichen Fantasy-Kosmos eine Pistole aus einem 3D-Drucker zum Einsatz bringt. Oder wenn Paul in der schönen Steinstadt ein „ganz intensives Unbehagen bei dem Gedanken an Gemüse“ entwickelt.Dinge, die aus der Erde wuchsen, schienen ihm mit einem Mal artifiziell, Blätter und Bäume wider die eigentliche Natur. Sich von etwas anderem als Seetang und Fisch zu ernähren und sich mit etwas anderem als Stein zu umgeben, erschien ihm als schlichtweg falsch.Quelle: Christian Kracht – Air
Motive der romantischen Tradition
Doch die Idylle ohne Grünzeug währt nicht lange. Wie bei brutalen Fantasy-Epen üblich, gibt es auch in „Air“ am Ende ein grausames Gemetzel. Der Fürst von Tviot will die Steinstadt endlich erobern und greift die friedfertige Gemeinschaft an, die sich allerdings geschickt zu verteidigen weiß. Da könnte man Parallelen zu gegenwärtigen Konflikten und Krisen ziehen und sich eingedenk des Romanbeginns fragen, inwiefern das Grauen der unwirklichen Anderswelt uns daran erinnert, wie unsere realen Sorgen einzuordnen sind. Immerhin führt der seuchenkranke Feldherr aus dem Norden auch deshalb Krieg, weil er vermutet, der gesuchte Paul sei im Besitz eines Heilmittels gegen den Gelben Tod. Aber im Grunde versperrt sich Krachts Prosa einer weltpolitischen, tagesaktuellen Interpretation. Der Autor spielt vielmehr mit Motiven der romantischen Tradition, die nach der für Literatur, Musik und bildender Kunst so stilprägenden Epoche heute vor allem in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten weiterlebt. Dabei sind, wie auch Kracht erkannt hat, die Erzählgrenzen und Bewusstseinsebenen fließend:Es war überhaupt alles wie in Erinnerung oder wie im Film oder wie in einem Traum.Quelle: Christian Kracht – Air
Besser als Netflix
Die Themen der popkulturellen Neo-Romantik knüpfen unmittelbar an die historischen Vorläufer an. Damals wie heute geht es um: die Hinwendung zur Natur angesichts allgegenwärtiger Gewalt, Weltflucht und Rückzug in Fantasie- und Traumwelten, Faszination des Mittelalters und des Unheimlichen, das Streben nach dem Unendlichen und Unerreichbaren, die Sehnsucht nach vollkommener Liebe und die Schönheit der Dinge. An einer Stelle erklärt Paul, warum er nicht in der steinernen Utopie bleiben, sondern aufs Eismeer fahren möchte: „Sehen, was dahinter ist." Christan Kracht verklärt die romantischen Motive keineswegs. Bei ihm sind alle Figuren entweder tot oder beschädigt, die Schönheiten von Natur und Kultur verschwinden vom Planeten und sind bald nur als digitale Erinnerung im Datenspeicher abzurufen. Das treibt die Sinnsucher Paul und Cohen weiter an - selbst wenn oder gerade weil das Ziel unbekannt ist: „Wohin ging es nur. Wer waren sie."Ein literarisches Rätselvergnügen
Mit diesen existentiellen Grundfragen hatte sich Christian Kracht auch schon in seinem Roman „1979“ beschäftigt, der in Zeiten der iranischen Revolution spielt. Überhaupt lassen sich in „Air“ nicht wenige Verweise aufs eigene Werk finden, über die sich die Fans des Autors gewiss freuen. Tatsächlich hat Kracht, nachdem er sich zuletzt am Genre der Autofiktion abgearbeitet hat, mit „Air“ einen Roman geschrieben, der nicht nur innerhalb der Science-Fiction-Fantasy-Matrix überzeugt, sondern der für einen literarisches Rätselvergnügen genügend Bedeutungsebenen und Subtexte auch jenseits der Genre-Konventionen bietet. Kracht spielt mit kulturellen Versatzstücken und Erinnerungen, bleibt seinem Stil aber dennoch treu: mit großer Geste, dabei möglichst lässig, ständig etwas Neues suchend, an die Grenzen des Erzählbaren zu gelangen, als wäre der Schriftsteller selbst einer wie Paul, der nach jeder Etappe weiterziehen muss. Das Ergebnis ist in diesem Fall verstörend gut. Warum „Netflix“ schauen, wenn man Christian Krachts „Air“ lesen kann.973 afleveringen
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Christian Krachts Roman „Air“ ist eine rätselhafte Identitätssuche, die Grausames in zitierfähiger Sprache erzählt. Ein literarischer Wurf, der an Krachts Sinnsucherdrama „1979“ erinnert, das während der iranischen Revolutionswirren spielt. Mit dem ersten Satz beginnt auch schon das virtuose Spiel des Romans: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich." Rätselhaft und provokativ wirkt die Formulierung, denn die Grausamkeiten, die in Christian Krachts neuem Prosawerk „Air“ beschrieben werden, geben durchaus Anlass, sich Sorgen zu machen. Aber welches Leben ist überhaupt gemeint und warum könnte die Wahrnehmung trügen? Über die vertraute und doch fremde Welt, die im ersten Erzählstrang geschildert wird, urteilt der allwissende Erzähler folgendermaßen: „Es war eine Zeit, in der viele Dinge schnell erworben und wieder vergessen wurden."
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Lifestyle-Exzentrik vor rauer Landschaftskulisse
Das Verschwinden bzw. Bewahren der Erinnerungen wird noch eine wichtige Rolle spielen in dem Buch, das zunächst das Portrait einer klassischen Christian-Kracht-Figur liefert, die in passenden Adjektiv-Orgien schwelgt: Der feinsinnige, leicht verschrobene und stets an sich zweifelnde Schweizer Inneneinrichter Paul lebt zurückgezogen auf dem schottischen Orkney-Archipel, hat aber genug zu tun, um seinen distinguierten Lifestyle am Nordrand der europäischen Zivilisation zu finanzieren.Der erste Auftrag war ein sehr streng minimalistisches, gläsernes Cottage auf den Shetlandinseln gewesen, das er einrichten sollte. Er ließ alles steingrau streichen, Decken, Wände, Fußböden, Einbauschränke, einfach alles, und dann ließ er ein paar naturbelassene Felsen nebeneinander auf den frisch gestrichenen Fußboden des Wohnzimmers legen, so daß die Unterseite der Steine ganz leicht die frische graue Farbe reflektierte.Pauls Vorliebe für monochrome Gestaltungsideen erregt die Aufmerksamkeit eines anderen Schöngeists namens Cohen, der nicht nur eine ambitionierte Design-Zeitschrift herausbringt, sondern auch seltsame Aufträge zu vergeben hat. Paul möge doch bitte ein riesiges Rechenzentrum in Norwegen, in dem die digitalen Erinnerungen der Menschheit gespeichert sind, farblich umgestalten: „Und Cohen sagte nun, Paul solle alles weiß malen, die ganze Halle. Die Rechner, die Wände, die Decke, den Fußboden. Vermutungen, Vorstellungen und Erinnerungen würden sich in so großen Mengen im Green Mountain Datenzentrum ballen, daß ein weißgestrichener Raum für Aufgeräumtheit sorgen würde, und dafür bräuchte man nicht irgendein Weiß, sondern das perfekte, das einmalige Weiß."Quelle: Christian Kracht – Air
Raumsprung in eine düstere Parallelwelt
Paul fragt sich zwar, ob er „Cohens Marionette“ sei, doch er fliegt selbstverständlich nach Norwegen, um sich die Computerhalle anzuschauen. Während der neugierige Dekorateur durch die Anlage wandelt und sich von der „Gigantomie des Projekts“ berauschen lässt, ereignet sich im Weltall eine „außergewöhnliche Sonneneruption“ – mit der Folge, dass ein „schockwellenartiger Magnetsturm mit Lichtgeschwindigkeit Richtung Erde“ rast. Der große Energiewirbel markiert den entscheidenden Wendepunkt des Romans, der sich nun vom Genre, aber auch im Tonfall ändert. Denn Paul hat sich titelgerecht in Luft aufgelöst: „Fast achtzig Menschen suchten mehrere Stunden alles in der Halle nach ihm ab, aber er war nicht mehr da." Ganz verschwunden ist Paul trotzdem nicht, er lebt nurmehr in einer anderen Dimension, romantechnisch könnte man sagen: in der zweiten Erzählebene weiter, nämlich in einer blutigen Fantasy-Welt, die an die berühmten Streaming-Serie „Game of Thrones“ erinnert: Es gibt verschiedene Reiche, geheimnisvolle Eismenschen und eine Gemeinschaft, die in einer Steinstadt lebt.„Magische“ Erfindungen wie Brillengläser
Eine Seuche zieht durchs Land, und als wäre der „Gelbe Tod“ nicht schon Übel genug, terrorisieren die Soldaten des Fürsten von Tviot die darbende Bevölkerung nicht nur im grünen Norden, sondern auch in südlichen Gefilden: „Er lässt die Menschen wegen der kleinsten Kleinigkeit in den Dornenturm sperren oder aufs Rad binden." In derart mittelalterliche Verhältnisse wird Paul katapultiert, und er bekommt auch gleich einen Pfeil in den Rücken geschossen. Zum Glück hat der Mann es nicht mit den Häschern des Herzogs zu tun, sondern mit dem freundlichen und schlauen Waisenkind Ildr, das den Verletzten umgehend versorgt. Nach erster Skepsis und kuriosen Gesprächen über „magische“ Erfindungen wie Brillengläser fliehen die beiden dann auch Richtung Steinstadt, in der die Menschen in kargen Behausungen am Meer eine Kollektivutopie leben:Wer allein schlafen wollte, galt als eigennütziger Sonderling und wurde sanft, aber mit Nachdruck davon überzeugt, daß die Kraft der Steinstadt einzig in der Gemeinschaft lag.Quelle: Christian Kracht – Air
Rätselhaft, verspielt, magisch
Christian Kracht entwickelt erstaunlich stimmungsvolle Szenen im Reich der sozialistischen Steinmenschen, und so stellt sich bei zunehmender Lektüre die Frage, worauf die Geschichte hinauslaufen mag, wie die Erzählwelten in der wahrlich luftigen Romankonstruktion verbunden sind. Handelt es sich um eine temporäre Zeitreise, um endlos verschlungene Träume oder um eine Abenteuergeschichte im digitalen Gedächtnis der Figuren, die gewissermaßen auf den Spuren ihrer kulturellen Erinnerung sind? Kracht, der mit einer Fülle von Details und kuriosen Einfällen beeindruckt, gibt keine abschließende Antwort. Allein die Kraft der literarischen Fiktion stellt eine Verbindung der Welten her, die sich in ihrer Gegensätzlichkeit erstaunlich ähnlich sind. So kann man viele Passagen, wenn man es denn will, ideologiekritisch gegenüber der Neigung des Menschen lesen, sich seiner Umgebung allzu schnell anzupassen. Der Schriftsteller beweist zumindest Humor, wenn er im altertümlichen Fantasy-Kosmos eine Pistole aus einem 3D-Drucker zum Einsatz bringt. Oder wenn Paul in der schönen Steinstadt ein „ganz intensives Unbehagen bei dem Gedanken an Gemüse“ entwickelt.Dinge, die aus der Erde wuchsen, schienen ihm mit einem Mal artifiziell, Blätter und Bäume wider die eigentliche Natur. Sich von etwas anderem als Seetang und Fisch zu ernähren und sich mit etwas anderem als Stein zu umgeben, erschien ihm als schlichtweg falsch.Quelle: Christian Kracht – Air
Motive der romantischen Tradition
Doch die Idylle ohne Grünzeug währt nicht lange. Wie bei brutalen Fantasy-Epen üblich, gibt es auch in „Air“ am Ende ein grausames Gemetzel. Der Fürst von Tviot will die Steinstadt endlich erobern und greift die friedfertige Gemeinschaft an, die sich allerdings geschickt zu verteidigen weiß. Da könnte man Parallelen zu gegenwärtigen Konflikten und Krisen ziehen und sich eingedenk des Romanbeginns fragen, inwiefern das Grauen der unwirklichen Anderswelt uns daran erinnert, wie unsere realen Sorgen einzuordnen sind. Immerhin führt der seuchenkranke Feldherr aus dem Norden auch deshalb Krieg, weil er vermutet, der gesuchte Paul sei im Besitz eines Heilmittels gegen den Gelben Tod. Aber im Grunde versperrt sich Krachts Prosa einer weltpolitischen, tagesaktuellen Interpretation. Der Autor spielt vielmehr mit Motiven der romantischen Tradition, die nach der für Literatur, Musik und bildender Kunst so stilprägenden Epoche heute vor allem in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten weiterlebt. Dabei sind, wie auch Kracht erkannt hat, die Erzählgrenzen und Bewusstseinsebenen fließend:Es war überhaupt alles wie in Erinnerung oder wie im Film oder wie in einem Traum.Quelle: Christian Kracht – Air
Besser als Netflix
Die Themen der popkulturellen Neo-Romantik knüpfen unmittelbar an die historischen Vorläufer an. Damals wie heute geht es um: die Hinwendung zur Natur angesichts allgegenwärtiger Gewalt, Weltflucht und Rückzug in Fantasie- und Traumwelten, Faszination des Mittelalters und des Unheimlichen, das Streben nach dem Unendlichen und Unerreichbaren, die Sehnsucht nach vollkommener Liebe und die Schönheit der Dinge. An einer Stelle erklärt Paul, warum er nicht in der steinernen Utopie bleiben, sondern aufs Eismeer fahren möchte: „Sehen, was dahinter ist." Christan Kracht verklärt die romantischen Motive keineswegs. Bei ihm sind alle Figuren entweder tot oder beschädigt, die Schönheiten von Natur und Kultur verschwinden vom Planeten und sind bald nur als digitale Erinnerung im Datenspeicher abzurufen. Das treibt die Sinnsucher Paul und Cohen weiter an - selbst wenn oder gerade weil das Ziel unbekannt ist: „Wohin ging es nur. Wer waren sie."Ein literarisches Rätselvergnügen
Mit diesen existentiellen Grundfragen hatte sich Christian Kracht auch schon in seinem Roman „1979“ beschäftigt, der in Zeiten der iranischen Revolution spielt. Überhaupt lassen sich in „Air“ nicht wenige Verweise aufs eigene Werk finden, über die sich die Fans des Autors gewiss freuen. Tatsächlich hat Kracht, nachdem er sich zuletzt am Genre der Autofiktion abgearbeitet hat, mit „Air“ einen Roman geschrieben, der nicht nur innerhalb der Science-Fiction-Fantasy-Matrix überzeugt, sondern der für einen literarisches Rätselvergnügen genügend Bedeutungsebenen und Subtexte auch jenseits der Genre-Konventionen bietet. Kracht spielt mit kulturellen Versatzstücken und Erinnerungen, bleibt seinem Stil aber dennoch treu: mit großer Geste, dabei möglichst lässig, ständig etwas Neues suchend, an die Grenzen des Erzählbaren zu gelangen, als wäre der Schriftsteller selbst einer wie Paul, der nach jeder Etappe weiterziehen muss. Das Ergebnis ist in diesem Fall verstörend gut. Warum „Netflix“ schauen, wenn man Christian Krachts „Air“ lesen kann.973 afleveringen
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